"Otherwise explodes a bomb!"

Hallo Boris, cher ami,

vor vie­len Jah­ren, zu Beginn einer Tür­kei­reise mit mei­nem Schwie­ger­va­ter, hatte ich mir einen Leih­wa­gen zum Hotel bestellt. An einem Mon­tag Mor­gen, acht Uhr. Bereits eine Minute nach acht Uhr konnte mein Schwie­ger­va­ter, immer­hin der Bedeu­tendste Lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins Und Angren­zen­der Ter­ri­to­rien, seine Unge­duld kaum ver­heh­len. Er fuhr einen der Pagen, die gelang­weilt unsere Kof­fer bewach­ten, an, er solle doch mal in der Agen­tur nach­fra­gen. Jetzt. Sofort. Call the agency! Imme­dia­tely! Der Page, ganz ver­dutzt, was sollte er denn mit die­sem blö­den Leih­wa­gen zu tun haben, ver­schwand eilig im Hotel. Wäh­rend­des­sen kul­ti­vierte mein Schwie­ger­va­ter seine Unge­duld. Kri­tik wurde auch mir zuteil. Was das denn für eine win­dige Firma wäre, mit Hertz oder Avis wäre mir das nicht pas­siert, ob ich denn sicher wäre, dass ich wirk­lich eine Reser­vie­rung getä­tigt hätte, das hätte man nun von mei­ner schwä­bi­schen Spar­sam­keit. Keine zehn Minu­ten spä­ter kam der Page zurück. Fand ich erstaun­lich. Ich meine, dass er über­haupt zurück­kam. Aber er kannte eben mei­nen Schwie­ger­va­ter nicht. Musste zudem zuge­ben, nie­man­den erreicht zu haben. Maybe too early, ergänzte er noch. War ehr­lich, aber stra­te­gisch unklug.Too early! Das ging nun gar nicht. Nicht mit mei­nem Schwie­ger­va­ter. Too early gibt es nicht! Mein Schwie­ger­va­ter konnte sei­nen Zorn nicht mehr unter Kon­trolle hal­ten. Zehn Minu­ten über der Zeit immer­hin schon. Wenn jetzt nicht sofort die­ser Wagen käme, brüllte er, dann…, dann… – OTHERWISE EXPLODES A BOMB! Könnte man heut­zu­tage, d'ailleurs, auch nicht mehr ein­fach unge­straft raus­las­sen.

Dein Brief, cher ami, an Orange (frü­her France Télé­com, außer dem Namen hat sich aber nicht viel geän­dert, Anmer­kung der Redak­tion) erin­nert mich so ein biss­chen an den Auf­tritt mei­nes Schwie­ger­va­ters damals.

Nous som­mes très con­tra­riés! Finde ich sti­lis­tisch sehr schön, Eure Ver­är­ge­rung im Klar­text zu beto­nen. Obwohl Deine Ent­rüs­tung und auch Deine Ent­täu­schung, bis auf Klei­nig­kei­ten ortho­gra­phisch weit­ge­hend feh­ler­frei übri­gens, dem Adres­sa­ten eigent­lich nicht ver­bor­gen blei­ben kön­nen. Ich teile jedoch Deine Befürch­tung, die Sach­be­ar­bei­ter bei Orange könn­ten nur wenig Sinn für die seman­ti­schen Fein­hei­ten Dei­ner wohl­ge­schlif­fe­nen Sätze auf­brin­gen wol­len. Des­we­gen Klar­text: Nous som­mes très con­tra­riés! Ande­rer­seits möchte ich jedoch die prin­zi­pi­ell zwei­fel­hafte Moti­va­tion der Mit­ar­bei­ter die­ser quasi-staat­li­chen Struk­tur zu beden­ken geben: Was hat denn irgend­ein Mon­sieur oder irgend­eine Madame von Orange mit dem Tele­fon eines Aus­län­ders in des­sen Zweit­re­si­denz am Ende eines stau­bi­gen Feld­wegs zwi­schen Laven­del­plan­ta­gen im Lub­é­ron zu tun? Kün­di­gen wol­len Sie? Nur zu. Dann blei­ben Sie eben ganz ohne Tele­fon. Am Ende Ihres stau­bi­gen Feld­wegs gibt es höchst­wahr­schein­lich nicht ein­mal Spu­ren eines Mobil­funk­netz­tes. Wir kön­nen Ihnen dann auch nicht mehr hel­fen. Wol­len wir auch gar nicht. Denn, wis­sen Sie, wir sind eine quasi-staat­li­che Struk­tur. Eine quasi-staat­li­che Struk­tur en France! Wir fol­gen unse­ren eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Und Druck machen las­sen wir uns schon mal gar nicht. Außer­dem haben wir gerade Som­mer­fe­rien. Und dann la ren­trée, Schul­an­fang. In Frank­reich, soll­ten Sie mitt­ler­weile doch wis­sen, ist der Schul­an­fang so hei­lig wie Ascen­sion oder Weih­nach­ten. Vor Mitte Sep­tem­ber bewegt sich bei uns gar nichts. Kom­men Sie also bloß nicht auf die Idee, uns Ulti­ma­ten stel­len zu wol­len!

Dein Pro­test­schrei­ben wurde, ver­mut­lich nicht vor Ende Juli, zur all­ge­mei­nen Erhei­te­rung der gesam­ten Beleg­schaft anläss­lich einer Bespre­chung zur Pla­nung der Weih­nachts­fe­rien ver­le­sen. Bestimmt haben sie da einen Jean-Bap­tiste oder eine Marie-Jeanne, die jeden Text aus Deutsch­land mit der grau­si­gen Ton­lage eines Sturm­bann­füh­rers vor­tra­gen kön­nen. Oder der Karl Lager­felds. Fran­zo­sen ste­hen auf sowas, beschert ihnen regel­mä­ßig eine bei­nahe woh­lige Gän­se­haut. Viel­fach kopiert ver­gilbt Dein Pam­phlet seit­dem an den Innen­sei­ten diver­ser Klo­tü­ren und wurde sogar auf hei­mi­sche Kühl­schränke gepinnt. Nous som­mes très con­tra­riés ist bei Orange zum geflü­gel­ten Wort gewor­den. Kann man zu fast jeder Gele­gen­heit anbrin­gen. Zu den mal wie­der mat­schi­gen Pom­mes in der Kan­tine ebenso wie der all­ge­mei­nen Über­las­tung. Ich hatte schon drei Anrufe heute! Drei! Nous som­mes très con­tra­riés! Hahaha.

Ver­mut­lich, cher ami, weißt Du das alles. Oder kannst Dir das als Frank­reich-Vete­ran bes­tens vor­stel­len.

Ande­rer­seits sind meine Erfah­run­gen mit der 3900-Hot­line gar nicht so schlecht. Wenn man erst­mal an der Reihe ist, das kann natür­lich dau­ern, geben sie sich freund­lich und zuge­wandt, zuver­sicht­lich und gera­dezu kom­pe­tent. Kön­nen erstaun­lich prä­zise Fern­dia­gnos­tik betrei­ben und geben über­aus prä­zise Details zu ergrei­fen­den Maß­nah­men zum Bes­ten. Ver­spre­chen Repa­ra­tur inner­halb von zwei, drei Tagen und hal­ten sich sogar meis­tens daran. Im Rah­men der orts­üb­li­chen Gege­ben­hei­ten eben. Ich rufe bei nächs­ter Gele­gen­heit mal an bei der 3900. Und halte Dich auf dem Lau­fen­den.

Bis Mitte Sep­tem­ber wird alles gut sein. Bestimmt.

© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Schön haben Sie's hier

Einer von die­sen gro­ßen Bäu­men ist tot. Ein Euka­lyp­tus. Bestimmt zwan­zig Meter hoch, unten ein Durch­mes­ser von fast einem Meter. Die Haus­ver­wal­tung der Appar­te­ment­an­lage nebenan hatte mich dar­auf hin­ge­wie­sen. Ména­çant, bedroh­lich sei das. Die Haus­ver­wal­tung hat recht. Dies­mal schon. Sie haben immer was an mei­nen Bäu­men aus­zu­set­zen. Zu viele Blät­ter, zu viele Blü­ten, zu viele Eicheln, Äste auf der fal­schen Seite des Zauns. Dies­mal haben sie recht. Wenn der Baum umfiele Rich­tung Appar­te­ment­an­lage, würde er Bal­kone mit­neh­men und auf dem Park­platz ein regel­rech­tes Mas­sa­ker anrich­ten. Zahl­lose Autos. Schlimms­ten­falls Men­schen. Papa auf dem Weg zur Arbeit, Mama mit Kin­dern auf dem Weg zur Schule. Wer weiß schon, wann der Baum umfällt. So ein toter Baum ist unbe­re­chen­bar. Drin­gen­der Hand­lungs­be­darf.

Schön haben Sie's hier. Der Baum­spe­zia­li­sist. Ein Spe­zia­list für das Fäl­len gro­ßer Bäume unter best­mög­li­cher Scho­nung der Umge­bung. Aus meh­re­ren Kos­ten­vor­anschlä­gen, min­des­tens zwei, werde ich den güns­tigs­ten aus­wäh­len. Die­ser Spe­zia­list, weiß ich aus Erfah­rung, wird den Zuschlag ver­mut­lich nicht bekom­men. Hand­wer­ker und Dienst­leis­ter, die als ers­tes schön haben Sie's hier sagen, brin­gen in ihre Kal­ku­la­tion den Schön-haben-Sie's-hier-Zuschlag ein. Min­des­tens zwan­zig Pro­zent. Schon am Tele­fon zur Ver­ein­ba­rung unse­res Ren­dez­vous war ver­mut­lich schon der erste Zuschlag zur Pro­fit­ma­xi­mie­rung fäl­lig gewor­den. Etwas har­ter teu­to­ni­scher Akzent. Aus­län­der­zu­schlag.

Vor ein paar Jah­ren war spät abends mal ein Ast abge­fal­len von einem die­ser gro­ßen Bäume. Ein­fach so. War wohl ein biss­chen mod­rig am Ansatz. Konnte man nicht vor­her­se­hen. Fiel eines Abends ein­fach ab und quer über den Park­platz der Appar­te­ment­an­lage. Gegen elf Uhr klopfte mich die Poli­zei aus dem Bett. Ob ich das nicht gehört hätte? – Was denn? – Na, mei­nen Baum, der gerade umge­fal­len wäre. Ich hatte nichts gehört. Eine Alarm­an­lage viel­leicht frü­her am Abend. Alarm­an­la­gen geben hier stän­dig Alarm. Auf dem Park­platz der Appart­ment­e­an­lage Kata­stro­phen-Sze­na­rio. Mein Baum lag quer über den Park­platz, die letz­ten Zweige direkt vor dem Ein­gangs­be­reich. Blau­licht von Poli­zei und Feu­er­wehr. Schein­wer­fer, Ket­ten­sä­gen. Rat­los umher­ste­hende Men­schen. Ich musste mein Bedau­ern zum Aus­druck brin­gen und For­mu­lare für die Ver­si­che­run­gen aus­fül­len.

Das wäre ja nicht ganz ein­fach, sagte der Baum­spe­zia­list, so dicht am Park­platz und an den ande­ren Bäu­men. So groß der Baum, so dick, so schwer. Euka­lyp­tus sei schwe­res Holz, selbst wenn es tro­cken ist und tot, außer­dem fase­rig und hart, erklärte der Baum­spe­zia­list. Viel schwe­rer zu bear­bei­ten noch als Eiche. Redete von Absper­run­gen auf dem Park­platz nebenan und Hebe­büh­nen, Spe­zi­al­ket­ten für seine Sägen. Euka­lyp­tus-Spe­zi­al­ket­ten. Min­des­tens drei Mann. Wahr­schein­lich ein gan­zer Tag. Extra­kos­ten für die Ent­sor­gung. Logisch. Damit würde er spä­ter im Ange­bot noch einen Wahn­sin­nig-schwie­rig-Zuschlag recht­fer­ti­gen. Dem Aus­län­der, der so wohnt, kann man bestimmt alles ver­kau­fen. Hat ja ver­mut­lich keine Ahnung, der Aus­län­der.

Damals waren fünf Autos zu Scha­den gekom­men. Zum Glück kein Per­so­nen­scha­den. Nicht aus­zu­den­ken, wenn Men­schen zu Scha­den gekom­men wären. Nur Autos. Eines davon Total­scha­den. Ver­mut­lich. Es sah zumin­dest nach Total­scha­den aus. Das Auto war ein Samm­ler­stück, sagte der Besit­zer, ergänzte aller­lei tech­ni­sche Details. Son­der­an­fer­ti­gung, viele Zylin­der. Was ver­stehe ich von Autos? Ein Auto ist gut, wenn es nicht jedes Jahr in die Werk­statt muss. Das Samm­ler­stück war ein Mer­ce­des. Einer von die­sen unver­wüst­li­chen, die Aber­mil­lio­nen von Kilo­me­tern schaf­fen. Nicht tot zu krie­gen. Mein Vater hatte mal so einen. So ein Modell von frü­her, ein Mani­fest gedie­ge­ner schwä­bi­scher Zuver­läs­sig­keit bar jeg­li­cher Ele­ganz. Mein Vater konnte sich nicht damit anfreun­den. Sein ers­ter und letz­ter Die­sel. Nie wie­der Die­sel. Der ein­zige Die­sel mei­nes Vaters fährt bestimmt noch irgendwo in Afrika als Taxi.

Auf dem Rück­weg zu sei­nem groß­rah­mi­gen SUV aus Bay­ern plau­der­ten wir noch ein wenig. Ich musste klar­stel­len, dass ich kein Bel­gier sei und dies hier nicht mein Zweit­wohn­sitz. Bel­gier sind min­des­tens ebenso unbe­liebt wie pari­si­ens und damit Zuschlags­an­wär­ter. Zweit­wohn­sitz geht ohne­hin nicht. Sol­chen Leu­ten muss man Geld abneh­men, wo es nur geht. Dass ich nicht im Urlaub hier wäre, son­dern in Frank­reich arbei­ten würde, ange­stellt im Kran­ken­haus. Bel­gier- und Zweit­wohn­sitz-Zuschlag wür­den sich trotz­dem im Ange­bot nie­der­schla­gen, ahnte ich. Unaus­ge­spro­chen. Dazu noch der Dok­tor­zu­schlag. Auch unaus­ge­spro­chen natür­lich.

Das Samm­ler­stück sah wirk­lich nicht gut aus. Das Dach ein­ge­drückt, fast alle Schei­ben in klei­nen Krü­meln. Zudem hatte ein Zweig des Asts den Motor durch­bohrt. Rich­tig tot. Erin­nerte mich an Dra­cula-Filme. Erst ein durchs Herz getrie­be­ner Holz­pf­lock bringt den Unto­ten die letzte Ruhe. Der Besit­zer würde diese Asso­zia­tion nicht so komisch fin­den, er hatte Trä­nen in den Augen. Was über­haupt hat ein angeb­lich so wert­vol­les Auto auf dem Park­platz einer Appar­te­ment­an­lage zu suchen, dachte ich mir. Ein Mer­ce­des sei ja eigent­lich nicht tot zu krie­gen, ver­suchte ich den trau­ri­gen Besit­zer zu trös­ten, mein Vater hätte auch so einen. Seit vie­len Jah­ren schon. Unver­wüst­lich. Sein gan­zer Stolz. Und bestimmt sei der Wagen ja ent­spre­chend sei­nes Werts ver­si­chert. Bei Mer­ce­des krie­gen die das bestimmt wie­der hin.

Zwei Tage spä­ter eine Mail mit dem devis, dem Ange­bot. 1 800 Euro HT, hors taxes, ohne Mehr­wert­steuer. Sämt­li­che Zuschläge offen­bar rea­li­siert. Mehr­wert­steuer noch­mal zwan­zig Pro­zent. Das kenne ich schon. Machen Maler, Klemp­ner, Mau­rer auch gerne so. Fan­gen an mit ihrem Schön-haben-Sie's-hier, den­ken sich einen pas­sen­den Zuschlag dafür, ergän­zen die­sen zunächst mit dem Wahn­sin­nig-schwie­rig-Zuschlag und ver­voll­stän­di­gen groß­zü­gig auf­grund ver­mut­lich bel­gi­schen Akzents, Zweit­woh­nung und Dok­tor. Mehr­wert­steuer, ja, lei­der. – Maxime, ein jun­ger Baum­spe­zia­list aus dem Dorf, macht den Baum mit einem Kum­pel an einem Sams­tag-Vor­mit­tag um. Ohne Absper­rung, ohne Hebe­büh­nen, ohne Kol­la­te­ral­scha­den. Eine Son­der­re­ge­lung als Jung­un­ter­neh­mer erlaubt ihm den Ver­zicht auf die Mehr­wert­steuer. Vier­hun­dert Euro. Maxime ist Anfän­ger im Spe­zia­lis­ten-Gewerbe.

Schön haben Sie's hier.

© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Für Aila von der Rivie­r­a­Zeit die auf gut vier­tau­send Zei­chen geschrumpfte Ver­sion

Einervon die­sen gro­ßen Bäu­men ist tot. Ein Euka­lyp­tus. Bestimmt zwan­zig Meter hoch, unten ein Durch­mes­ser von einem Meter. Die Haus­ver­wal­tungderAppart­ment­an­lage nebenan hatte mich dar­auf hin­ge­wie­sen.Ména­çant,bedroh­lich sei das. Die Haus­ver­wal­tung hat recht. Wenn der Baumumfällt Rich­tungAppart­ment­an­lage, würde er Bal­kone mit­neh­men undauf dem Park­platz ein Mas­sa­ker anrich­ten. Zahl­lose Auto.Schlimms­ten­falls Men­schen. Wer weiß, wannder Baum umfällt.Drin­gen­der Hand­lungs­be­darf.

Schönhaben Sie's hier. Der Baum­spe­zia­li­sist. Ein Spe­zia­list für dasFäl­len gro­ßer Bäume unter best­mög­li­cher Scho­nung der Umge­bung.Aus meh­re­ren Kos­ten­vor­anschlä­gen werde ich den güns­tigs­tenaus­wäh­len. Die­ser Spe­zia­list wird den Zuschlag ver­mut­lich nichtbekom­men. Hand­wer­ker und Dienst­leis­ter,die als ers­tes schön habenSie's hier sagen, brin­gen in ihre Kal­ku­la­tion denSchön-haben-Sie's-hier-Zuschlag ein. Min­des­tens zwan­zig Pro­zent.Schon amTele­fon zur Ver­ein­ba­rung unse­res Ren­dez­vous war ver­mut­lichschon der erste Zuschlag fäl­lig gewor­den. Etwas har­ter teu­to­ni­scherAkzent. Aus­län­der­zu­schlag.

Vorein paar Jah­ren war spät abends mal ein Ast abge­fal­len von einemdie­ser gro­ßen Bäume. Ein­fach so, unvor­her­seh­bar. Fiel eines Abendsab und quer überden Park­platz der Appart­ment­an­lage. Gegen elf Uhrklopfte mich die Poli­zei aus dem Bett. Auf dem Park­platz derAppart­ment­an­lage herrschte Kata­stro­phen­stim­mung. Der Ast lag querüber den Park­platz, die letz­ten Zweige direkt vor demEin­gangs­be­reich. Blau­licht von Poli­zei und Feu­er­wehr. Schein­wer­fer,Ket­ten­sä­gen. Rat­los umher­ste­hende Men­schen. Ich musste mein Bedau­ernzum Aus­druck brin­gen und For­mu­lare für die Ver­si­che­run­gen aus­fül­len.

Daswäre ja nicht ganz ein­fach, sagte der Baum­spe­zia­list, so dicht am Park­platz und an den ande­ren Bäu­men, so groß, so dick, so schwer. Euka­lyp­tus istschwe­res Holz, auch tro­cken und tot, außer­dem fase­rigund hart, erklärte der Baum­spe­zia­list. Viel schwe­rer zu bear­bei­tennoch als Eiche. Redete vonAbsper­run­gen auf dem Park­platz nebenan undHebe­büh­nen, Spe­zi­al­ket­ten für seine Sägen.Euka­lyp­tus-Spe­zi­al­ket­ten. Min­des­tens drei Mann. Wahr­schein­licheingan­zer Tag. Extra­kos­ten für die Ent­sor­gung. Logisch. Damit würde erspä­ter im Ange­bot den Wahn­sin­nig-schwie­rig-Zuschlag recht­fer­ti­gen.Dem Aus­län­der,der so wohnt, kann man bestimmt alles ver­kau­fen. Hatja ver­mut­lich keine Ahnung, der Aus­län­der. Dar­auf die Mehr­wert­steuer. Auch zwan­zig Pro­zent.

Damalswaren fünf Autos zu Scha­den gekom­men. Zum Glück keinPer­so­nen­scha­den. Nicht aus­zu­den­ken, wenn Men­schen zu Scha­den gekom­menwären. NurAutos. Eines davon sah nach Total­scha­den aus. EinMer­ce­des. Einer von die­sen unver­wüst­li­chen, die Aber­mil­lio­nen vonKilo­me­tern schaf­fen. So ein Modell vonfrü­her, ein Mani­festgedie­ge­ner schwä­bi­scher Zuver­läs­sig­keit bar jeg­li­cher Ele­ganz.Nicht tot zu krie­gen. Ein Samm­ler­stück, sagte der Besit­zer mitTrä­nen inden Augen, ergänzte aller­lei tech­ni­sche Details.Son­der­an­fer­ti­gung, viele Zylin­der.DasSamm­ler­stück sah wirk­lich nicht gut aus. Das Dach ein­ge­drückt, fastalle Schei­ben in klei­nen Krü­meln. Zudem hatte ein Zweig des Asts denMotordurch­bohrt. Rich­tig tot. Ein Mer­ce­des sei ja eigent­lich nichttot zu krie­gen, ver­suchte ich den trau­ri­gen Besit­zer zu trös­ten,mein Vater hätte auch so einen.Seit vie­len Jah­ren schon.Unver­wüst­lich. Und bestimmt sei der Wagen ja ent­spre­chend sei­nesWerts ver­si­chert. Das krie­gen die bei Mer­ce­des bestimmt wie­derhin.

Aufdem Rück­weg zu sei­nem groß­rah­mi­gen SUV aus Bay­ern plau­der­ten wirnoch ein wenig. Ich musste klar­stel­len, dass ichkeinBel­gier sei und dies hiernichtmein Zweit­wohn­sitz. Bel­gier- und Zweit­wohn­sitz-Zuschlag wür­den sichtrotz­dem im Ange­bot nie­der­schla­gen. Dazu noch der Dok­tor­zu­schlag.ZweiTage spä­ter kam eine Mail mit dem Ange­bot. 1 800 Eurohorstaxes,ohne Mehr­wert­steuer. Sämt­li­che Zuschläge offen­bar dis­kretinbe­grif­fen. Maxime, einjun­ger Baum­spe­zia­list aus der Dorf, machtdas mit einem Kum­pel an einem Sams­tag-Vor­mit­tag. Ohne Absper­rung,ohne Hebe­büh­nen, ohne Kol­la­te­ral­scha­den,ohne Mehr­wert­steuer.Vier­hun­dert Euro.

Schönhaben Sie's hier.

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Frédéric

Frédé­ric ist der Neu­ro­loge. Der Neu­ro­loge. Die Par­kin­son-Kory­phäe der Region. Er gilt zumin­dest als Par­kin­son-Kory­phäe. Gibt halt kei­nen ande­ren Neu­ro­lo­gen in der Nähe. Ter­min Diens­tag abends um halb sie­ben. Stau auf der Auto­bahn, wahr­schein­lich der Tun­nel zu. Der Tun­nel schließt gerne mal zur Rush hour. Ich nahm Schleich­wege und schickte ihm eine kurze sms. Bouchons, retard de 5minu­tes, désolé. Stau, 5 Minu­ten Ver­spä­tung, tut mir leid. Was man eben so kurz gefasst schrei­ben kann mit der ande­ren Hand am Lenk­rad. Eigent­lich unver­ant­wort­lich, Tele­fon am Steuer, ich weiß. Ich lasse nur sehr ungern jeman­den war­ten. Schon gleich gar nicht die Kory­phäe. Es waren tat­säch­lich kaum mehr als fünf Minu­ten, zählt in die­sen Brei­ten eigent­lich nichtals ernst­hafte Ver­spä­tung. 18:37 Uhr gilt noch als pünkt­lich. Im War­te­zim­mer noch ein älte­rer Herr, na ja, was heißt schon älter, ein biss­chen grauer eben, die Alten den­ken ja immer, die ande­ren Alten seien noch älter als sie selbst. Der ältere Herr trug eine Hals­man­schette. Ich weiß nicht, ob das wirk­lich so heißt, so ein Ding eben, was sie einem ver­pas­sen bei Schleu­der­trauma, nach Auf­fahr­un­fall meis­tens. Deren Nut­zen ist, neben­bei bemerkt, stark umstrit­ten, gera­dezu zwei­fel­haft. Die Man­schette führt zu einer Schwä­chung der Hals­mus­ku­la­tur, die ja gerade gebraucht würde zur Sta­bi­li­sie­rung beim Schleu­der­trauma. Derältere Herr – excu­sez-moi, vous avez ren­dez-vous pour quelle heure? – hatte einen Ter­min um 19 Uhr. Erstaun­lich, fand ich noch, eine halbe Stunde vor der Zeit. Über­pünkt­lich. Würde mir im Traum nicht ein­fal­len. Der arme Kerl würde mich auch noch abwar­ten müs­sen mit mei­nem Ter­min vor sei­nem.

Vier­tel nach sie­ben end­lich ver­ab­schie­dete Frédé­ric den Vor­pa­ti­en­ten und kam ins War­te­zim­mer. Es täte ihm leid, aber mein Ren­dez­vous wäre doch ges­tern gewe­sen, könnte natür­lich auch sein, dass sich sein Sekre­ta­riat getäuscht hätte, wie auch immer, er nähme mich danach noch, quand même, trotz­dem, sagte er. Sagte er, lächelte sein Lächeln aus sei­nen unge­pfleg­ten Zäh­nen. Was heißt hier trotz­dem, dachte ich mir. Trotz was? Trotz Insuf­fi­zi­enz sei­nes Sekre­ta­ri­ats? Will ich denn über­haupt noch genom­men wer­den, danach? Ich wollte mei­nem Unmut in aller Klar­heit Aus­druck ver­lei­hen, da hatte er mir jedoch schon den Rücken gekehrt und ver­schwand mit dem grau­haa­ri­gen Schleu­der­trauma.

Scheisse, dachte ich, und ärgerte mich über meine man­gelnde Schlag­fer­tig­keit. Wirk­lich schade, wollte ich gesagt haben, ich warte quand même, immer­hin, schon eine geschla­gene halbe Stunde, ich habe nicht so viel Zeit, dann mache ich eben einen neuen Ter­min. Scheisse, schrie ich im lee­ren War­te­zim­mer das kläg­li­che War­te­zim­mer­grün in der Ecke an, tigerte um den Plas­tik­tisch mit abge­ge­rif­fe­nen Maga­zi­nen, – Géo, Le Figaro – und ver­suchte mich zu beru­hi­gen. War ja eh zu spät, auf­re­gen bringt nichts, Auf­re­gung macht mir ein dis­kre­tes Zit­tern in den lin­ken Arm. Trotz­dem: Scheisse!

Ich hatte mich auf einen gemüt­li­chen Fern­seh­abend mit den Kin­dern und ihrer Mut­ter gefreut. Abend­essen devant la télé, vor der Glotze. Auch sehr umstrit­ten, ich weiß, gera­dezu zwei­fel­haft. Bei­nahe unver­ant­wort­lich. Egal. Erzie­hung soll ande­rer­seits nicht immer nur unan­ge­nehm sein. Immer­hin hat­ten sie sämt­li­che Haus­auf­ga­ben für die nächs­ten Tage erle­digt. Sogar die Eng­lisch­vo­ka­beln. Wir woll­ten den drit­ten Teil von "Diver­gente" gucken, so ein Sci­ence-fic­tion-Spek­ta­kel. Früh genug woll­ten wir uns vor der Glotze ein­fin­den, weil am nächs­ten Tag ja Schule war. – Fangt schon mal an, das dau­ert hier noch. Frédé­ric nimmt sich eine gute halbe Stunde pro Pati­en­ten. Gut die Hälfte der Zeit geht aller­dings in die Doku­men­ta­tion. Alles muss auf­ge­schrie­ben wer­den. Mit zwei Fin­gern und ohne Sekre­tä­rin ist das müh­se­lig. Das hier würde also noch min­des­tens eine Stunde dau­ern, vor halb neun käme ich nicht wie­der raus.

Das Arzt-Pati­ent-Ver­hält­nis ist, glaube ich, in Frank­reich bestimmt mehr als in Deutsch­land von Über­heb­lich­keit, Her­ab­las­sung und Miss­ach­tung geprägt. Der Pati­ent wird im all­ge­mei­nen geduzt und als stö­rend emp­fun­den. Der Pati­ent soll dank­bar sein, über­haupt gehört zu wer­den. Zwei Stun­den War­te­zeit zur Ein­stim­mung sind dabei durch­aus ange­mes­sen. Frédé­ric duzt mich zwar nicht, immer­hin bin ich Kol­lege, kann sich aber mei­nen Namen nicht mer­ken und nennt mich in sei­nen Unter­la­gen hart­nä­ckig Bert­rand. Und das H im Fami­li­en­na­men fin­det sei­nen Platz immer wie­der woan­ders. Kann er nicht bes­ser. Will er wahr­schein­lich nicht. Egal eben irgend­wie. Als Pati­ent ist man eben oft egal irgend­wie. Frédé­ric zeigt sich aus­ge­spro­chen unzu­frie­den ange­sichts der Tat­sa­che, dass ich sei­nem ergän­zen­den The­ra­pie­vor­schlag nicht fol­gen wollte seit unse­rem letz­ten Ren­dez­vous. Immer­hin bin ich der Pati­ent und er der Arzt. Der Pati­ent hat den Anwei­sun­gen des Arz­tes Folge zu leis­ten. Zudem hatte er damals schon, nach­dem er keine wirk­lich grif­fi­gen medi­zi­ni­schen Argu­mente prä­sen­tie­ren konnte, zu aller­lei rhe­tho­ri­schen Tricks gegrif­fen. Ich solle mich doch nicht dop­pelt bestra­fen. Erst die Krank­heit und dann auch noch The­ra­pie­ver­wei­ge­rung. Blöd­sinn. Hat er mich jemals gefragt, wie ich mit der Krank­heit lebe? Ob ich sie als Strafe emp­finde? Unter­stellt er ein­fach so. Woher hat er so einen Unsinn? Küchen­tisch­psy­cho­lo­gie. Nehme ich ihm immer noch übel. Seine strenge Unzu­frie­den­heit beein­druckt mich nicht wei­ter. Er macht einen ver­zwei­fel­ten Gesichts­aus­druck. Aber warum denn nicht noch ein Medi­ka­ment, bon sang, meine Güte! – Ganz ein­fach, ich spüre keine ernst­hafte Ver­schlech­te­rung und somit kei­nen Grund, mehr Pil­len zu essen.

Und, vor allem, habe ich kein Inter­esse, ohne Ver­schlech­te­rung alle diese Neben­wir­kun­gen sei­nes neuen Medi­ka­ments in Kauf zu neh­men. Ein bun­tes Sam­mel­su­rium mas­si­ver Phä­no­mene. All­er­gie, Übel­keit, Ver­stop­fung, Durch­fall, das Übli­che eben. Dazu Gedächt­nis­stö­run­gen, Herz­schwä­che, Gewichts­zu­nahme, Wahn­vor­stel­lun­gen. So Sachen. Immer­hin! Okay, wenn man Bei­pack­zet­teln und dem Inter­net wahl­los Glau­ben schenkt, macht jedes Mediak­ment noch krän­ker. Weiß ich. wiki​pe​dia​.de als halb­wegs seriöse Quelle schreibt: "Auf­grund des Auf­tre­tens mög­li­cher 'Schlaf­at­ta­cken', ist das Füh­ren eines Kfz … zu unter­las­sen". Nar­ko­lep­sie. Betrifft immer­hin 14%. Dürfte ich dann noch ruhi­gen Gewis­sens meine Kin­der von der Schule abho­len? Über­haupt Auto fah­ren? "Häu­fig ist das Auf­tre­ten von Impuls­kon­troll­stö­run­gen". Kauf­rausch, Spiel­sucht, Hyper­se­xua­li­tät. Super. Dar­auf hatte Frédé­ric mich schon beim letz­ten Mal hin­ge­wie­sen. Und sei­nen Hin­weis Buch­sta­ben für Buch­sta­ben in seine Doku­men­ta­tion getippt.

Das hat nichts mit Empa­thie für seine Pati­en­ten zu tun. Wahr­schein­lich hat er Angst um sich selbst. Ver­mut­lich gab es in irgend­ei­ner Fach­zeit­schrift mal einen Fall­be­richt aus den USA. Jim H. Brown in Spring­fied, Ohio, hatte sei­ner Toch­ter ein Renn­pferd gekauft, vier Cadil­lacs bestellt und Ama­zon halb leer gekauft. Sein Anwalt konnte dem Neu­ro­lo­gen Scha­dens­er­satz in Höhe von 3,1 Mil­lio­nen Dol­lar abpres­sen wegen lücken­haf­ter Auf­klä­rung. 3,1 Mil­lio­nen! Soweit sind wir in Frank­reich noch nicht, aber man sollte schon auf­pas­sen. Und neu­lich auf dem Kon­gress in Tou­louse die Anek­dote von Gérard S., der sich eine ergie­bige Tour durch sämt­li­che Sex­shops des Dépar­te­ments gegönnt hatte, sich die Suite impé­riale buchte im 5-Sterne-Hotel und ein gan­zes Rudel Damen bestellte. Dann, als es los­ge­hen sollte, aller­dings einem Herz­in­farkt erlag. Hahaha. Die Ange­hö­ri­gen ahn­ten nichts von einem mög­li­chen Zusam­men­hang mit der kürz­lich ange­setz­ten The­ra­pie. Ouff. Aber Ach­tung, liebe Kol­le­gen! Nicht alle Ange­hö­ri­gen sind so unbe­darft. Klä­ren Sie auf und doku­men­tie­ren Sie. Die Doku­men­ta­tion ist das wich­tigste.

Ich musste mir wie­der einen lan­gen Mono­log über den Pathome­cha­nis­mus mei­ner Krank­heit anhö­ren, es ist immer der glei­che Text, es geht um den Dopa­min­man­gel, den fort­schrei­ten­den Dopa­min­man­gel und ver­schie­dene the­ra­peu­ti­sche Ansätze. Die­ser Vor­trag ist immer der glei­che, hat er sich wohl schon vor Jah­ren zuge­legt, kriegt wahr­schein­lich jeder zu hören, ob er will oder nicht, ob er wie ich davon auch schon mal im Stu­dium geört hat oder nicht. Frédé­ric lässt sich nicht unter­bre­chen, fährt unbe­irrt fort im Text, legt bei Zwi­schen­fra­gen ein biss­chen Laut­stärke zu. Unbe­irr­bar. Ich bin der Dok­tor und du der Pati­ent. Der Pati­ent hört gedul­dig zu. Man kann nur abwar­ten, bis es vor­bei ist.

Aus abrech­nungs­tech­ni­schen Grün­den darf die kör­per­li­che Unter­su­chung natür­lich nicht feh­len. Die wie­derum hält Frédé­ric sehr knapp, strik­tes Mini­mum. Ich darf zwei Mal auf- und abge­hen in sei­nem groß­zü­gi­gen Alt­bau­büro zur Beur­tei­lung mei­nes Gang­bilds und ob der Arm noch mit­schwingt. Sein Büro dient gleich­zei­tig als Lager­raum für aller­lei aus­ge­diente häus­li­che Uten­si­lien, ein Bügel­brett zum Bei­spiel lehnt hin­ten links an der Wand und ein paar Kar­tons tür­men sich – cui­sine, salon, chambre, Küche, Wohn­zim­mer, Schlaf­zim­mer. Frédé­ric ist Schei­dungs-Sin­gle, kein Wun­der. Wir üben aktive und pas­sive Bewe­gung. Zahn­rad­phä­no­men links. Wuss­ten wir schon, wird nicht bes­ser mit der Zeit. Rota­tion im Unter­arm wie zum Glüh­bir­nen­schrau­ben. Nicht so gut links. Nicht schlech­ter aller­dings als vor bald zwei Jah­ren schon. Nicht viel schlech­ter zumin­dest. Nicht so, dass es mich stö­ren würde. Wie häu­fig habe ich schon Glüh­bir­nen zu wech­seln? Mit links? Um sei­ner Unter­su­chung einen wis­sen­schaft­li­chen Touch zu geben, spricht er von Scores. Die Moto­rik betref­fend habe ich einen Score von zwei. Zwei von wie­viel, fragte ich. Zwei von vier. Medi­zi­ner lie­ben Scores. Wir haben in der Anäs­the­sie auch eine ganze Menge davon. Zu irgend­was müs­sen ja all die Pro­fes­so­ren und ihre Dok­to­ran­den gut sein. Und? Was heißt das? Unver­än­dert, musste er zuge­ben. Warum also noch ein Medi­ka­ment, fragte ich. Ich würde mich mel­den, wenn mir danach wäre.

Schließ­lich, end­lich im Auf­bruch begrif­fen, wir hat­ten schon über das nächste Mal gere­det, in sechs Mona­ten und ich würde dann einen Ter­min mit sei­nem Sekre­ta­riat fin­den, fing er doch wie­der an. Wenn ich das Sifrol nicht neh­men wollte, könnte es ja auch ein ande­rer Wirk­stoff sein. Welch erstaun­li­ches Ansin­nen! Geht es nur darum, mit einer Schach­tel mehr nach Hause zu gehen? Ist es denn so egal, was ich da esse? Wol­len wir es viel­leicht mal mit Aspi­rin, Vit­amin C oder Homöo­pa­thie ver­su­chen?

Hilft bestimmt auch. Ganz bestimmt.

© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Veröffentlicht am Kategorien Frankreich, französisch, ParkinsonSchlagwörter Küchentischpsychologie, Schleudertrauma, Score, Sifrol, ZahnsteinSchreibe einen Kommentar zu Frédéric

Schweinehunde

Über den Win­ter hat sich ein gan­zes Rudel inne­rer Schwei­ne­hunde gegen mein Fahr­rad ange­sam­melt. Der Wind an sich, der Wind aus der fal­schen Rich­tung, die Kälte, die Nässe, die Wol­ken, die Regen­wahr­schein­lich­keit. Dazu die übli­chen Schwei­ne­hunde, die immer funk­tio­nie­ren. Der leere Kühl­schrank, zu wenig Kat­zen­fut­ter, der fast ver­stopfte Ablauf der Bade­wanne. Sowas. Wenn es ein Argu­ment gegen ein, zwei Stun­den Rad­fah­ren zu fin­den galt, fand sich auch eins.

Zur Not Stella.

2:16 Uhr das Tele­fon. Stella. Stella, la sage-femme, die Heb­amme. Braucht eine Péri­du­rale für eine Dritt­ge­bä­rende bei fünf Zen­ti­me­tern. Stella bezeich­net sich selbst als chat noir, als jeman­den, der Unglück irgend­wie anzu­zie­hen scheint. Wenn Stella im Kreiss­saal ist, geht immer, na ja, oft was schief. Okay, keine beun­ru­hi­gen­den Ein­zel­hei­ten an die­ser Stelle. Auch im Kreiss­saal kann eben immer wie­der mal was schief­ge­hen. Orga­ni­sa­to­risch, mensch­lich, medi­zi­nisch. Acht Minu­ten spä­ter schon, 2:24 Uhr, finde ich Stella in Saal 4. Der Mut­ter­mund mitt­ler­weile voll­stän­dig eröff­net. Typisch Stella. Eigent­lich zu spät für eine Péri­du­rale. Wie lange es wohl noch dau­ern würde, bis das Kind da sei? Na ja, eine halbe Stunde bestimmt viel­leicht schon noch. Bis die Péri­du­rale fer­tig ist und zu wir­ken beginnt, dau­ert es etwa zwan­zig Minu­ten.

Cap Garonne ist eine Wohn­lage wie Cap Fer­rat in Nizza, Pam­pe­lonne bei Saint-Tro­pez oder Cap Bénat bei Le Lavan­dou. Das Meer in Sicht­weite, Aus­sicht bis Kor­sika, woh­nen Leute – oder kom­men übers Wochen­ende – in Anwe­sen deut­lich jen­seits der Mil­lio­nen­grenze. Bei­la­gen von Hoch­glanz­ma­ga­zi­nen bie­ten sowas an. Drei Mil­lio­nen auf­wärts. Video­über­wa­chung, Pfört­ner, Zugangs­kon­trolle. Rie­sige Ter­ras­sen, Pools, deren blauer Hori­zont mit dem Him­mel ver­schmilzt. Im Fuhr­park eli­täre Roads­ter ohne Dach und rie­sige All­rad­schiffe, viel zu groß für die schma­len Stra­ßen. Am einem Don­ners­tag­mor­gen nach Stella mit­ten in der Nacht sind hier nur weiße Kas­ten­wa­gen unter­wegs, Klemp­ner, Gla­ser, Schlüs­sel­dienste. Auch in der Hoch­glan­z­im­mo­bi­lie geht mal eine Scheibe kaputt, ist mal ein Klo ver­stopft, hat der Nach­wuchs den Code der Alarm­an­lage ver­stellt. Sans faire exprès natür­lich. Warum sollte hier irgend­et­was anders sein als bei nor­ma­len Leu­ten?

Ob sie wirk­lich all die Risi­ken in Kauf neh­men möchte? Für zehn Minu­ten weni­ger Schmerz viel­leicht? – Wel­che Risi­ken? – Na ja, auch eine Péri­du­rale kann töd­li­che Kom­pli­ka­tio­nen mit sich brin­gen. Für Sie oder ihr Baby. So ist das eben in der Medi­zin. Oder Sie in den Roll­stuhl brin­gen. Das war ein biss­chen unfair, ich weiß. Das Glei­che sage ich den wer­den­den Müt­tern in der nor­ma­len Sprech­stunde zwar auch, gehört zur Risi­ko­auf­klä­rung, aber rela­ti­viere diese Risi­ken im glei­chen Atem­zug als heut­zu­tage eher theo­re­tisch.

Vor ein paar Jah­ren, ich kann mich noch prä­zise an den Abschnitt erin­nern, wurde ich von der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin über­holt. In einer Stei­gung. Mor­gens um zehn nach acht. Sie hatte ihr Töch­ter­chen dabei, blond gelockt und in Rosa. Im Anhän­ger. Wahr­schein­lich auf dem Weg in die École mater­nelle. Beide lächel­ten und nick­ten mir auf­mun­ternd zu. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, auch nur dran zu blei­ben. Spä­ter fragte ich mich, ob das Fahr­rad der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin nicht doch mit Bat­te­rie und Motor getunt war.

Die Dritt­ge­bä­rende will es nachts um halb drei unter der Vor­stel­lung nicht uner­heb­li­cher Risi­ken doch lie­ber mit ange­pass­ter Atem­tech­nik zu Ende brin­gen. Muss sich eben Stella mehr bemü­hen. Und kann nicht mehr als Schwei­ne­hund her­hal­ten.

Auf mei­ner Stre­cke über Cap Garonne, gemä­ßigt berg­auf und bergab, gesperrt außer für Anlie­ger und Rad­fah­rer, zwi­schen Pinien, Fel­sen, Man­del­bäu­men, Oli­ven und Fei­gen, gele­gent­lich eilige Kas­ten­wa­gen von vorne oder hin­ten, gibt es, abseits der abge­rie­gel­ten Wohn­be­zirke, zwi­schen ver­wil­der­ten Wein­stö­cken und ein­ge­fal­le­nen Gewächs­häu­sern, noch ursprüng­li­che Häus­chen in Bruch­stein. Man­che mit erheb­li­chem Reno­vie­rungs­be­darf. Aber mit vue mer. Spä­ter, wenn ich mal älter bin, wenn die Kin­der mal nicht mehr zuhause woh­nen und nur alle halbe Jahre für ein Wochen­ende zu Besuch kom­men, reicht mir auch sowas. Von mei­ner Ter­rasse aus kann man das Meer hören, sehen und rie­chen. Am Hori­zont die Fäh­ren nach Kor­sika, Sar­di­nien und Rom, manch­mal die Charles-de-Gaulle. Im Kühl­schrank immer ein Vor­rat von ein paar Fla­schen Rosé. Für die Enkel ein Matrat­zen­la­ger unter dem Dach, zur Abküh­lung reicht der Brun­nen im Gar­ten.

Für mich ein Fahr­rad mit Elek­tro­un­ter­stüt­zung.

© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Marie

La con­ne­rie et la paresse, Dumm­heit und Faul­heit. Ist in der Sprech­stunde eine rela­tiv häu­fige Ant­wort, viel­leicht zehn Pro­zent, gepfleg­ter männ­li­cher Ruhe­ständ­ler mit über­re­gio­na­ler Tages­zei­tung unter dem Arm. Ist die Ant­wort auf die Frage "pré­sen­tez-vous des all­er­gies", haben Sie All­er­gien? Lächeln ein ver­schmitz­tes Lächeln dazu, ergän­zen gerne, nein, im Ernst, ich bin nicht ein­mal auf Iod all­er­gisch. Die Iod-All­er­gie hin­ge­gen ist eine beliebte All­er­gie jun­ger Erzie­he­rin­nen. Ich frage mich immer, zu wel­cher Gele­gen­heit junge Erzie­he­rin­nen mit Iod in Berüh­rung kom­men. Ver­tra­gen, auf Nach­frage, keine Aus­tern. Nicht wei­ter schlimm, im OP gibt's keine Mee­res­früchte. Auf Béta­dine, dem gän­gi­gen Haut-Des­in­fek­ti­ons­mit­tel, ist sel­ten mal jemand all­er­gisch. Aus­tern undBéta­dine wer­den fälsch­li­cher­weise oft gleich­ge­setzt, was das Iod betrifft. Dies­be­züg­li­che Dis­kus­sio­nen mit jun­gen Erzie­he­rin­nen ver­meide ich gerne, notiere auf dem Nar­ko­se­bo­gen: Pas de Béta­dine, svp, bitte kein Béta­dine.

Die Fagen sind immer die glei­chen. Sind Sie schon mal ope­riert wor­den? Wenn ja, ist alles gut gegan­gen? Wie­viel rau­chen Sie, arbei­ten Sie, trei­ben Sie Sport? Wer Sport treibt, hält auch eine Nar­kose aus.

Les restan­ques, ça compte comme sport? – Gel­ten die Wein­berge als Sport?

Marie, bon sang, meine Güte! – Mama erhebt Ein­spruch. Ich ver­stehe nicht sofort, was Marie meint. Mir ist auch nicht klar, warum Mama ihre Toch­ter zurecht­weist.

Par­don? -

Non, c'est bon, lais­sez tom­ber. Je né fais pas de sport. – Schon gut, kein Sport. Restan­ques.

Marie ist fast sech­zehn und hat nächs­ten Don­ners­tag eine Abtrei­bung. Unter Voll­nar­kose. Des­we­gen sitzt sie in mei­ner Sprech­stunde. Ver­mut­lich haben die Wein­berge was mit ihrer Schwan­ger­schaft zu tun. So genau will ich es gar nicht wis­sen.

Ich habe zehn Minu­ten pro Pati­ent. Bei Men­schen ohne Vor­er­kran­kun­gen, denen die Weis­heits­zähne ent­fernt wer­den sol­len oder ein Leis­ten­bruch zu repa­rie­ren ist, rei­chen die zehn Minu­ten pro­blem­los. Form­sa­che. Sie sind voll­jäh­rig und haben weder Eltern noch besorgte Gat­ten dabei, wol­len den Auf­tritt beim Anäs­the­sis­ten so schnell wie mög­lich hin­ter sich brin­gen. Bloß keine Fra­gen, bloß keine lan­gen Erklä­run­gen zu Durch­füh­rung, Risi­ken und Neben­wir­kun­gen der Nar­kose. Eltern wol­len alles ganz genau wis­sen, logisch, besorgte Ange­hö­rige stel­len gele­gent­lich über­ra­schende Fra­gen: Sagen Sie, doc­teur, was soll eigent­lich ope­riert wer­den?

Neh­men Sie regel­mä­ßig Medi­ka­mente? Wenn jemand Medi­ka­mente nimmt, kann ich dar­aus Rück­schlüsse auf die Krank­hei­ten zie­hen. Ältere Herr­schaf­ten wis­sen ihrer­seits oft nicht, wofür sie ihre gan­zen Medi­ka­mente ein­neh­men. Meist ist es was für den Blut­druck, Herz­rhyth­mus­stö­run­gen, ver­engte Herz­kranz­ge­fäße, das Cho­le­ste­rin. Man­che Haus­ärzte, so scheint es, gewin­nen mit der Menge ver­schrie­be­ner Medi­ka­mente an Anse­hen bei ihren Pati­en­ten. Für jedes Weh­weh­chen ein Schäch­tel­chen. Für den quer­lie­gen­den Furz, für die kleine Schlaf­stö­rung, das gele­gent­li­che Sod­bren­nen. Warum nicht auch was für die Ner­ven und Sie schei­nen mir auch ein biss­chen depres­siv die letzte Zeit. Ach, die Katze ist gestor­ben! Ich schreibe Ihnen was auf. Zack, Schäch­tel­chen. Das wird schon wie­der. Und das Gedächt­nis ist auch nicht mehr so gut? Neu­lich muss­ten Sie nie­sen? Bestimmt eine All­er­gie. Schmer­zen in den gro­ßen Zehen. Bestimmt die Gicht. Am Ende dür­fen sie eine volle Ikea-Tüte aus der Phar­macie schlep­pen. Eine Art Krank­heits­ge­winn.

Ouvrez grand la bou­che et fai­tes aah, s'il vous plaît, öff­nen Sie den Mund soweit wie mög­lich und sagen Sie Aah, bitte! Gehört zur Unter­su­chung wie Blut­druck­mes­sung und Aus­kul­ta­tion von Herz und Lunge. Dient der Beur­tei­lung von even­tu­el­len Schwie­rig­kei­ten bei der Intu­ba­tion. Will aber auch kaum ein Pati­ent wis­sen. Sie machen den Mund weit auf und sagen Aah.

Marie kichert kurz, nimmt den Kau­gummi aus dem Mund, gehorcht. Und läuft knall­rot an. Mama, die den Mund soli­da­risch auch ein biss­chen geöff­net hat, prus­tet los.

Quoi, was?

Mama kann sich nur schwer beru­hi­gen. Muss auch was mit den Wein­ber­gen zu tun haben.

Müt­ter kön­nen sowas von pein­lich sein.

© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Trou du cul

Sonn­tag, 18:46 Uhr. Im Auto mit Frau und Toch­ter. Der Sohn erwar­tet uns mit den Freun­den am Kino. Super Timing. Ganz sel­ten schaf­fen wir es, so punkt­ge­nau im Auto zu sit­zen. Immer hat jemand was in letz­ter Minute ver­ges­sen. Handy, Porte­mon­naie, Regen­schirm. Wir haben Kar­ten für "Les Heu­res Som­bres" um 19:15 Uhr. Pathé Liberté. Das Kino im Stadt­zen­trum. Ten­den­zi­ell anspruchs­vol­lere Filme und Direkt­über­tra­gun­gen aus der Haupt­stadt oder der Oper in New York zei­gen sie nur im Stadt­zen­trum. Im Schwes­ter-Kino der neuen Bil­lig-Mall Rich­tung Nizza liegt der Schwer­punkt mehr auf Block­bus­tern. "Star Wars", "Jumanji" und fran­zö­si­scher Humor. In Imax oder 4D. Der Chur­chill-Film gilt wohl als anspruchs­vol­ler. Nur im Stadt­zen­trum. Ins Zen­trum gelangt man am schnells­ten über die Auto­bahn. Wenn der Auto­bahn­tun­nel unter der Stadt nicht zu ist. Wenn der Tun­nel zu ist, muss man die Schleich­wege ken­nen oder gott­er­ge­ben auf ein Wun­der hof­fen. Gott­er­ge­ben ist meis­tens bes­ser, weil alle Ein­hei­mi­schen die Schleich­wege ken­nen.

Jetzt müss­test du schon fah­ren wie ein Arsch­loch, wenn wir das Kino noch schaf­fen wol­len, sagt meine Frau.

Sie hat recht. Tun­nel fermé. Acci­dent. Steht da. Der Tun­nel ist zu. Wegen Unfall. Rote Pfeile auf den Leucht­ta­feln über den drei Spu­ren wei­sen blin­kend nach rechts, auf die Aus­fahrt direkt vor dem Tun­nel. Viele Ver­kehrs­teil­neh­mer fol­gen früh­zei­tig die­ser Auf­for­de­rung. Eigent­lich ganz ver­wun­der­lich ange­sichts der im all­ge­mei­nen eher medi­ter­ra­nen Inter­pre­ta­tion der Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung. Die linke Spur ist rela­tiv frei. Ich weiß, was meine Frau meint. Auf dem Weg zur Oper ist unser Timing manch­mal pri­mär nicht gut. Handy, Kre­dit­karte, Tickets. Unter ver­hal­te­nem Pro­test mei­ner Frau sehe ich mich gele­gent­lich genö­tigt, mein Poten­tial zu medi­ter­ra­ner Aus­rei­zung der Ver­kehrs­re­geln unter Beweis zu stel­len. Der Pro­test mei­ner Frau auf dem Weg zur Oper, wie gesagt, eher ver­hal­ten. Zweck­dien­lich ver­hal­ten. Meine Frau würde mich nur ungern offen zum Regel­bruch auf­for­dern. Ich weiß auch so, was meine Frau meint. Meine Toch­ter auch. Meine Toch­ter ist wohl­erzo­gen. Der offene Regel­bruch ent­spricht nicht ihrem Natu­rell. Sie hätte sowieso lie­ber "Belle & Sebas­tian 3" geguckt.

Tu né vas pas faire ça! Das machst du nicht! Tu né vas pas encore con­du­ire comme un thug! Nicht schon wie­der!

Wieso eigent­lich "schon wie­der"? Wann schon über­trete ich mal Ver­kehrs­re­geln?Rot ist rot. Aus Prin­zip. Mit Kin­dern im Auto erst recht. Und Tempo fünf­zig ist Tempo fünf­zig. Plus zehn Pro­zent viel­leicht. Höchs­tens. Habe ich ande­rer­seits denn aktu­ell eine Wahl? In mei­nem Tele­fon ist der QR-Code für alle unsere Kino­plätze gespei­chert. Acht Plätze. Mein Sohn war­tet, die Freunde war­ten. Mein Sohn wollte die­sen Film unbe­dingt sehen, weil er diese Woche eine Klas­sen­ar­beit zum zwei­ten Welt­krieg hat. Seine Initia­tive. Muss man för­dern sowas. Tun­nel auf oder zu, Pfeile nach rechts hin oder her, ich habe keine Wahl. Die linke Spur ist gera­dezu frei. Voll­zo­gene Inte­gra­tion mani­fes­tiert sich auf der lin­ken Spur.

Papa!

Herr Diehl!

Meine Frau hat auch keine Wahl. Sie muss offi­zi­ell Pro­test ein­le­gen. Das ist sie ihren teu­to­ni­schen Genen schul­dig. Und ihrer Rolle als Erzie­hungs­be­rech­tig­ter.

Was? Wol­len wir nun recht­zei­tig ins Kino kom­men oder nicht?

Natür­lich wol­len wir recht­zei­tig ins Kino kom­men. Ist ohne­hin nicht mehr weit bis zur Aus­fahrt, ein knap­per Kilo­me­ter viel­leicht noch. Die Aus­fahrt ist das Nadel­öhr. Gleich nach dem Nadel­öhr gibt es drei neue Spu­ren.

Blau­licht im Rück­spie­gel, Not­arzt, Feu­er­wehr. Vor­ne­weg bahnt ein Klein­wa­gen baye­ri­scher Pro­duk­tion mit Licht­hupe den Weg, um kurz vor der Sper­rung rechts ein­zu­sche­ren. Das ist fort­ge­schrit­tene Inte­gra­tion. Soweit bin ich noch nicht. Passt auch nicht zur Fami­li­en­kut­sche. Hin­ter dem Blau­licht ist die Bahn auch frei. Das wie­derum kann ich.

Papa!

Herr Diehl!

Was? Wol­len wir nun recht­zei­tig ins Kino kom­men oder nicht?

19:02 Uhr in der Ein­gangs­halle des Kinos. Als wäre nichts gewe­sen.

Excep­ti­on­nel­lement. Aus­nahms­weise. Aber nächs­tes Mal die Aus­weise nicht ver­ges­sen! Dem Kar­ten­prü­fer am Zugang zu den Sälen war schon aus der Ent­fer­nung anzu­se­hen, dass er Ärger machen würde. Diese Gesichts­haar­tracht ist ein Warn­zei­chen. "Gewerk­schaf­ter­b­art" heißt das bei wiki­pe­dia. Nor­ma­le­ment, eigent­lich, dürf­ten die Kin­der ohne ent­spre­chende Aus­weise nicht ins Kino. Ich kann ja auch nichts dafür, Anwei­sung der Direk­tion. Die Kin­der sol­len per Aus­weis bele­gen, dass sie zurecht vom jeweils ermä­ßig­ten Tarif pro­fi­tie­ren. Ehr­lich? Sieht man das nicht? Sehen mein Sohn und sein Freund nicht aus wie col­lé­gi­ens? Meine 12jährige Toch­ter und ihre Freun­din nicht wie unter vier­zehn?

Bei­nahe wäre trotz lang­wie­ri­ger Ver­hand­lun­gen mein selbst­lo­ser Ein­satz auf der Straße hin­fäl­lig gewe­sen.

Die Mut­ter des Freunds und der Freun­din, Vio­lo­nis­tin an der Oper, ist außer sich. So kenne ich sie gar nicht. Dem­nächst krie­gen die Kin­der nicht mal mehr eine Cola ohne Aus­weis! Wünscht dem Kar­ten­le­ser auf dem Weg nach Saal 6 alles nur erdenk­li­che Unheil an den Hals. Wer schon mit sol­chen Haa­ren im Gesicht rum­läuft! Dabei hatte der nun ja auch keine Wahl. Anwei­sung der Direk­tion. Wozu wären sonst Vor­schrif­ten da? Trotz­dem, natür­lich hat sie recht. Pinail­leur, petit con pré­ten­tieux, trou du cul. Erb­sen­zäh­ler, Klug­schei­ßer, Arsch­loch.

© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Yühtüb

Deutsch­land­reise. Nicht mehr lange bis zur Wahl. Pla­kate allent­hal­ben. Angela natür­lich und Mar­tin. Der sollte sich mal rasie­ren, sagen die Kin­der. Die loka­len Reprä­sen­tan­ten dazu. Man­che Por­träts auf den Pla­ka­ten in schwarz-weiß. Auch unra­siert. Dazu gelb auf rosa: FDP. Fin­den die Kin­der zum Brül­len komisch. Den soll man wäh­len? FDP? Papa ver­steht mal wie­der nichts. Erklärt, die FDP sei eben auch so eine Par­tei, die man in Deutsch­land wäh­len könnte. Wofür die Buch­sta­ben ste­hen, inters­siert die Kin­der schon gar nicht mehr. Ja, ja, schon gut, aber doch nicht FDP! Weißt du nicht, was das heißt? Papa weiß es nicht. Wahr­schein­lich eines die­ser Kür­zel, die die Kin­der so gerne ver­wen­den, lol und mdr kenne ich. FDP, klä­ren mich die Kin­der auf, steht für fils de pute. Stimmt, in Frank­reich ginge das gar nicht.

Rosa rosa rosam

Auf dem Weg zur Schule. Latein. Meine Toch­ter hat jetzt auch Latein. Ein Test. Sie übt noch mal schnell die A-Dekli­na­tion. Rosa rosa rosam. An diese Rei­hen­folge konnte ich mich beim ers­ten Sohn nur schwer gewöh­nen. Eigent­lich rosa rosae rosae. Fran­zo­sen machen gerne alles anders als alle ande­ren. Sogar Latein. Andere Rei­hen­folge der Fälle als die Deut­schen. Immer­hin bleibt der Nomi­na­tiv an ers­ter Stelle. Danach Kraut und Rüben. Als zwei­tes der Voka­tiv. Statt des Gene­tivs. Der Gene­tiv wird stief­kind­lich behan­delt, fin­det sich erst an vier­ter Stelle. Liegt viel­leicht daran, dass sie in ihrer Mut­ter­spra­che schon ohne Gene­tiv aus­kom­men müs­sen, statt von Papas Ham­mer von le mar­teau de papa, dem Ham­mer von Papa, reden müs­sen. Ist für mein Sprach­ge­fühl fast so ele­gant wie dem Papa sein Ham­mer. Ver­mut­lich eine Frage der Gewöh­nung. Andere roma­ni­sche Spra­chen müs­sen auch ohne Geni­tiv aus­kom­men.

Rosae rosae rosa

Meine Toch­ter mag Latein gar nicht, nimmt da kein Blatt vor den Mund. La pure merde sagt sie. Weil das nichts bringt. Was soll eine tote Spra­che schon brin­gen? Auch wenn die Brü­der schon Latein machen muss­ten. Der Eltern wegen. Weil das sehr wohl was bringt. Für das Sprach­ver­ständ­nis, den Sprach­er­werb, den Wort­schatz. Die All­ge­mein­bil­dung. Hat's uns etwa gescha­det? Sagen die Eltern.

Rosae rosae rosas rosarum rosis rosis

Die Brü­der konn­ten in der Tat auch wenig Begeis­te­rung auf­brin­gen für Latein. Hiel­ten sich aber zurück mit so kras­sem Kom­men­tar. Die Leh­rer geben sich ande­rer­seits große Mühe, ihrem unbe­lieb­ten Fach inter­es­sante Aspekte zu ver­lei­hen. Klas­sen­rei­sen zum Bei­spiel nach Rom, Nea­pel, Pom­peji. Auch die Reise des Sohns nach Grie­chen­land – Athen, Del­phi, Olym­pia – im nächs­ten Früh­jahr fin­det im Rah­men des Latein­un­ter­richts statt. Zehn Tage im Bus. Immer­hin. Ein Sohn durfte über Jahre Filme gucken, die im wei­tes­ten Sinne was mit der Spra­che zu tun hat­ten. Klas­si­ker wie Ben Hur. Wahr­schein­lich auch die Auf­nahme mit Jac­ques Brel. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber. Aber das ist schon fast so schlimm wie Oper. Ich glaube nicht, dass er über rosa rosa rosam hin­aus­ge­hende Sprach­kennt­nisse erwer­ben konnte. Egal.

Hast du gehört, was der gesagt hat?

Er hat was gesagt, rich­tig. Ich habe nicht zuge­hört. Nein, was denn?

Der hat twenty one pilot gesagt.

Ja, und?

Mor­gens auf dem Weg zur Schule. Wir hören mis­tral fm, Lokal­sen­der von Tou­lon. Von sechs bis neun wird "La Mati­nale" mode­riert von zwei Spre­chern, weib­lich und männ­lich, ich nenne sie mal Manon und Livio. Wahr­schein­lich haben sie auch wirk­li­che Namen, wahr­schein­lich stel­len sie sich auch irgend­wann vor, um sechs Uhr mor­gens ver­mut­lich. Vor dem Kaf­fee kann ich aber noch kein Radio mit impe­ra­tiv guter Laune aus­hal­ten. Ich höre mis­tral fm ohne­hin nur mit den Kin­dern im Auto und nur, wenn sie dar­auf bestehen. Wenn ich mit den Kin­dern mor­gens mis­tral fm höre, ist Manon zustän­dig für den Ver­kehrs­über­blick – Stau über­all, inten­si­ver Pend­ler­ver­kehr in die Groß­stadt eben, immer das Glei­che – und das Horo­skop, auch immer das Glei­che irgend­wie. Livio erzählt Neues aus der Welt der Pie­pöhl – er meint people, also VIPs, Hol­ly­wood­grö­ßen und ein­hei­mi­sche Pro­mi­nenz – sowie lus­tige Anek­do­ten, die er ver­mut­lich bei yahoo oder face­book auf­ge­schnappt hat. Manon lacht dazu gerne ein rau­chi­ges Lachen, kom­men­tiert wahn­sin­nig amü­sant und unglaub­lich inspi­riert. Manon sollte ein­fach beim Lachen blei­ben. Noch bes­ser wäre, wenn Livio ein­fach die Klappe hal­ten könnte.

Der hat pilot [pi:lot] gesagt. Mit I!

Mein Sohn gibt sich empört, ich ver­stehe nicht, warum. Na, und?

Twenty One Pilots ist eine eng­li­sche Gruppe. Man sagt [ˈpaɪləts].

Nous som­mes en France, fis­ton. Fran­zo­sen dür­fen das doch.

Wie­der im Auto. Mit der Toch­ter. Auf der vier­spu­ri­gen Aus­fall­straße – Ave­nue de la Paix – west­wärts Rich­tung Car­re­four, Ikea und Déc­a­th­lon ist die Geschwin­dig­keit auf fünf­zig Stun­den­ki­lo­me­ter begrenzt. Solar­be­trie­bene Mess­ge­räte zei­gen die tat­säch­lich gefah­rene Geschwin­dig­keit an. Grü­nes Smi­ley und "Merci" oder rot und die Dro­hung mit Punkt­ver­lust. Wer ohnePunkt­ver­lust fah­ren will, nimmt jede Ampel mit. Sechs Mal rot auf einem knap­pen Kilo­me­ter. Das nervt. Nur Fahr­schu­len fah­ren hier fünf­zig. Manch­mal reicht's trotz­dem nicht. Der eilige Hand­wer­ker im wei­ßen Kas­ten­wa­gen muss bei Rot über die Ampel. Egal. Fällt aber auch mei­ner Toch­ter auf.

T'as vu ce thug?

Meine Toch­ter sagt "tög". Klingt wie "bög". Die Ein­hei­mi­schen ken­nen den "bög" seit dem Ende des letz­ten Jahr­tau­sends. Den mil­le­nium bug haben die Fran­zo­sen von den Amis über­nom­men. Nicht nur sprach­lich. Immer, wenn was nicht nicht funk­tio­niert, ist es ein bög. Geht auch als Verb. Ça a bugué (oder beu­gué), da ist was schief gegan­gen. Den thug kannte ich nicht.

Was ist ein tög?

Un voyou, ein Gau­ner. Meine Toch­ter ant­wor­tet prin­zi­pi­ell auf Fran­zö­sisch.

Und woher kennst du das?

De quelqu'un chez you­tube, von jeman­dem bei You­tube. Wahr­schein­lich von einem fran­zö­si­schen you­tuber mit Mil­lio­nen von Abon­nen­ten. Squee­zie, Nor­man oder Cyprien. Meine Toch­ter sagt Yühtüb. Geht natür­lich gar nicht. Nicht mal nach den gän­gi­gen fran­zö­si­schen Regel zur Aus­spra­che geht das, ou ist u.

You­tube ist eng­lisch, kläre ich die Toch­ter auf, man sagt [ˈjuːˌt­juːb].

Tu peux le dire comme tu veux. Moi, je suis française. Et en France on dit Yühtüb.

Voilà. Ende der Dis­kus­sion.

© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Alles so wie immer

Ich hatte geahnt, das es soweit kom­men würde. Pro­kras­ti­na­tion bringt gar nichts. Pre­dige ich mei­nen Kin­dern regel­mä­ßig. Macht eure Haus­auf­ga­ben, lest eure Bücher recht­zei­tig, denkt an eure Sport­sa­chen. Ce qui est fait, n'est plus à faire. Getan ist getan. Ganz sel­ten hören sie auf mich.

Zum Wochen­ende Ende Novem­ber die Mail von der Redak­teu­rin. Hast du Stoff für uns? Mit dis­kre­ter Andeu­tung von Zeit­druck. Und lie­ben Grü­ßen aus dem Vor­weih­nachts­chaos. Kal­ter Schweiss. Nor­ma­ler­weise pas­siert mir das nicht. Nor­ma­ler­weise warte die Mail gar nicht erst ab oder habe schon was auf Lager. Meist irgend­was aus dem Blog, ein biss­chen über­ar­bei­tet, ein biss­chen gekürzt, nicht mehr als vier­tau­send Zei­chen. Ich hasse Zeit­druck. Macht eure Auf­ga­ben, wenn ihr Zeit habt. Ce qui est fait, n'est plus à faire höre ich mich noch selbst. Dazu nichts als faule Aus­re­den. Wie die Kin­der. Buch ver­ges­sen, Fül­ler gestoh­len, vom Schwim­men so müde. Auto in der Werk­statt, Spül­ma­schine kaputt, Ärger mit Kol­le­gen, sol­cher Unsinn. Als ob mir das Auto in der Werk­statt jedes denk­bare Zeit­fens­ter rau­ben könnte. Klas­si­sche Pro­kras­ti­na­tion. Abseh­bar somit und doch ganz plötz­lich die Mail von der Redak­teu­rin und nichts parat. Ich brau­che drin­gend einen Text für meine Kolumne wei­ter hin­ten in der Rivie­r­a­Zeit, zwei­spal­tig auf einer Art Nato­grün. Am bes­ten was pas­send zum Jah­res­ende. Was Net­tes zum Schmun­zeln, ein Text, der mit Bonne Année enden kann oder Meilleurs voeux. Was mit Bezug zur Côte d'Azur, zum Leben hier als deut­scher Aus­län­der. Zum Leben der Ziel­gruppe. Was mit Fami­lie viel­leicht. Fami­lie passt gut zum Jah­res­wech­sel. Fami­lie passt auch zur Ziel­gruppe. Die Ziel­gruppe muss oft Weih­nach­ten und Syl­ves­ter mit Kind und Kegel und Hund nach Karls­ruhe und Oer-Erken­schwick rei­sen, weil die Groß­el­tern lie­ber zuhause fei­ern. Wisst ihr, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngs­ten. Oder Fami­lie aus Mün­chen und Pots­dam fällt im Süden ein. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt.

Mein Schwie­ger­va­ter gehört zu letz­te­rer Kate­go­rie. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt. Er wird Neu­jahr im Süden ver­brin­gen. Obwohl er ja auch nicht mehr der Jüngste ist. Mit easy­jet nach Nizza flie­gen. Dort einen Leih­wa­gen neh­men. Ein paar Tage blauer Him­mel und medi­ter­rane Kuli­na­rik. Und Fami­lie. Fast alle Enkel sind zuhause. Freut mich sehr, weil er schon län­ger nicht mehr zu Besuch gekom­men ist. Frü­her kam er gerne mit dem Auto. Gerne auch alleine. Mit dem Auto, weil da mehr rein­geht als in ein, zwei Kof­fer. Und weil man dann unab­hän­gi­ger ist, sagte er. Man kann fah­ren, wann man will. Wenn man mor­gens um halb vier auf­wacht und fah­ren will, fährt man eben um halb vier Uhr mor­gens. Nichts konnte ihn auf­hal­ten. Senio­ren nei­gen zu Impe­ra­ti­ven die­ser Art. Mit dem Flie­ger müsste man zudem noch einen Leih­wa­gen neh­men in Nizza oder Mar­seille und das wäre alles zu läs­tig. Oder, noch schlim­mer, man müsste sich abho­len las­sen. Senio­ren wol­len vor allem nie­man­dem zur Last fal­len. Wenn er dann schon mal mit dem Auto kam, immer­hin gut 1.600 Kilo­me­ter in vier­zehn Stun­den, blieb er gerne auch ein biss­chen län­ger. Zwei, drei Wochen. Ich kann mich dann ja auch um die Küche küm­mern, sagte er. Er küm­mert sich gerne um die Küche, ein­schließ­lich mar­ché, pois­son­ne­rie, from­age­rie. Haben wir alles im Dorf. Süd­frank­reich eben. Frü­her, wenn er sich nicht um die Küche küm­merte, arbei­tete er im Gar­ten. Mein Schwie­ger­va­ter ist Bild­hauer. Der bedeu­tendste lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins übri­gens. Fin­det er nett, wenn man das sagt. Er ist bedeu­tendste lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins. Bei uns im Gar­ten ent­stan­den unter Ket­ten­säge, Stech­ei­sen und Win­kel­schlei­fer zahl­rei­che Skulp­tu­ren in Zeder, Zypresse, Aka­zie und Pinie. Über Wochen pro­fi­tierte das ganze Vier­tel vom wür­zi­gen Aroma medi­ter­ra­ner Höl­zer. Um den Staub küm­merte sich die Putz­frau.

Manch­mal kam auch die Schwie­ger­mut­ter, vor allem als die Kin­der noch klei­ner waren. Gerne auch sie alleine und lie­ber im Som­mer. Was uns auch ent­ge­gen­kam, irgend­wie. Ersparte uns Aupair-Mäd­chen und andere abgrün­dige Betreu­ungs­maß­nah­men. Ich schi­cke euch dann mal Mut­ter, sagte der Schwie­ger­va­ter dazu. Drei, vier Wochen. Damit sich's auch lohnt. Sie kann euch ja dann auch in der Küche hel­fen. Die Schwie­ger­mut­ter nahm gerne den Flie­ger, wir hol­ten sie in Mar­seille oder Nizza ab. Klei­nes Gepäck. Wenn ich was ver­gesse, kann ich mir das ja bei Inter­mar­ché oder Car­re­four holen, sagte sie. Sie half auch gerne in der Küche. Nudeln mit Toma­ten­soße, Pfann­ku­chen mit Nutella, Fisch­stäb­chen mit Kar­tof­fel­pü­ree. Dazu Bespa­ßung. Mari­ne­land, Aqua­land, MacDonald's.

Der Schwie­ger­va­ter bringt ein Paar kunst­in­ter­es­sier­ter Freunde mit. Er wird ihnen die Sehens­wür­dig­kei­ten der Umge­bung zei­gen, wahr­schein­lich das eine oder andere Museum. Sie wer­den zwei­fels­ohne auf Hafen­pro­me­na­den zu Mit­tag essen und exzes­sive Ein­käufe täti­gen auf dem Markt, bei der Fisch­frau und dem Käse­spe­zia­lis­ten. Süd­frank­reich eben. Blauer Him­mel im tiefs­ten Win­ter. Das Regen­grau zuhause nur in der Wet­ter-App. Kin­der, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr's hier habt. Wenn ich von der Arbeit zurück­komme, wer­den sie sich um die abend­li­che Kuli­na­rik geküm­mert haben. Punkt­ge­nau um sie­ben à table. Keine medi­ter­ra­nen Anwand­lun­gen bitte, preus­si­sche Gene las­sen da kei­nen Ver­hand­lungs­spiel­raum zu. Impe­ra­tiv. Mei­nes Schwie­ger­va­ters Fisch­suppe mit hand­ver­le­se­nen Zuta­ten ist ganz exqui­sit. Zum Jah­res­wech­sel wird es Aus­tern geben und andere fruits de mer. Meine Toch­ter wird sich dies­be­züg­lich unzu­frie­den zei­gen. Zu ihrem Geburts­tag hätte sie sich Raclette gewünscht oder Käse­fon­due. Egal, die Toch­ter fin­det immer was zu kri­ti­sie­ren.

Vor dem Count­down auf 2017 zwei, drei Mal Din­ner for One auf ver­schie­de­nen Sen­dern. Ein Muss. Same pro­ce­dure as every year.

© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Sixpack

Frü­her Frei­tag Abend. Vor der Tür drei Män­ner in Arbeits­klei­dung. In authen­ti­scher Aus­stat­tung leicht erkennt­lich als les ébou­eurs, die Müll­män­ner. Zum Jah­res­ende warnt die Gemeinde gele­gent­lich vor fal­schen Kalen­der­bo­ten. Diese sind mit Sicher­heit echt. Sie sind zu dritt. Betrü­ger kom­men angeb­lich meis­tens alleine. Und sind auch nicht so authen­tisch aus­ge­stat­tet mit Reflek­tor­strei­fen an Bei­nen und Armen. Die Her­ren erin­nern sich außer­dem an die aus­schwei­fen­den Som­mer­feste mei­nes Sohns bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Einer trägt einen Packen Kalen­der unter dem Arm. Die Kalen­der, jetzt schon? Mitte Novem­ber? Trifft mich unvor­be­rei­tet. Nor­ma­ler­weise habe ich kleine Umschläge. Kärt­chen mit net­ten Wor­ten. Dank für die Mühen das ganze Jahr über, herz­li­che Wün­schen zu Jah­res­end­fei­er­lich­kei­ten und dem Neuen Jahr. Dazu Schecks. Ja, die­ses Jahr ein biss­chen frü­her, die Kol­le­gen von der Post hät­ten ja auch schon die Runde gemacht.

2003. Frü­her Nach­mittag im Spät­som­mer. Mis­tral. Das ist Wind aus dem Wes­ten. Rich­ti­ger Wind. Sieste auf dem Sofa im Salon. Stim­men auf der Ter­rasse wecken mich. Ich ver­stehe kein Wort. Die Ton­lage etwas auf­ge­regt. Der Sohn, damals sie­ben, und sein Kum­pel aus der Nach­bar­schaft. Sie tuscheln, wer­den lau­ter. Auf­ge­regt, einer fällt dem ande­ren ins Wort. Kommt vor. Jungs in die­sem Alter haben immer wie­der irgend­welche Dis­kus­sionen. Um Holz­schwerter, Bälle, Spiel­re­geln. Mur­meln gehen ver­lo­ren und der andere hat Schuld. Ver­mut­lich kein Hand­lungs­be­darf mei­ner­seits. Eltern sol­len sich nicht immer ein­mi­schen. Und außer­dem schlafe ich gerade. Wenn einer ver­letzt wäre, würde auch zumin­dest einer wei­nen. Wenn sie ein Pflas­ter bräuch­ten, stän­den sie schon längst vor mei­nem Sofa. Was soll schon pas­sieren? Wir woh­nen am Ende einer Sack­gasse. Von der Tür aus sehen sie, dass Papa schläft. Il dort. Das Tuscheln der Jungs ent­fernt sich wie­der. Dachte ich mir doch, kein Hand­lungs­be­darf. Das nächste Mal brin­gen sie ihre Dis­kus­sion bitte außer Hör­weite auf der Ter­rasse zu Ende.

Der Kalen­der der Müll­män­ner ist in aller Regel ein Modell äußerst öko­no­mi­scher Aus­stat­tung. Ein Kar­ton DIN A 4, Post­kar­ten­an­sicht vom Dorf, Meilleurs Vœux für 2018, ein Kalen­der auf­ge­tackert. Gefragt, wie­viel sie dafür haben wol­len, wür­den sie ant­wor­ten comme vous vou­lez, wie Sie wol­len. Das Ding ist eigent­lich nicht mehr als fünf­zig Cent wert. Ich frage nicht. In mei­nem Umschlag fin­den sie regel­mä­ßig einen Scheck über einen gut zwei­stel­li­gen Betrag. Dafür ent­sor­gen sie wider­spruchs­los jeg­li­chen Unrat. Sie wür­den ein ver­en­de­tes Pferd ebenso mit­neh­men wie schäd­lings­ver­seuchte Pal­men. Wäre sonst Son­der­müll. Die­ser Groß­mut ist Gold wert.

Papa!

Papa!

Was denn? Jetzt also doch. Mei­ner klei­ner Sohn und sein copain plötz­lich direkt an mei­nem Sofa. Obwohl ich doch schlafe. Ganz auf­ge­regt die bei­den. Der copain steht einen Schritt schräg hin­ter mei­nem Sohn. Sie haben was ange­stellt und wis­sen nicht, wie sie es erklä­ren kön­nen, ohne dass zuviel Schuld auf sie fällt. Mein Sohn fängt Sätze an und fin­det den Inhalt nicht. Sie haben was gefun­den. On l'a trouvé. Was auch immer. Wird sich bestimmt noch zei­gen. Am Stra­ßen­rand zur Wiese. Gegen­über unse­rer Ein­fahrt befin­det sich eine Art Fuß­ball­feld. Etwas halb­her­zig unter­hal­ten. Könnte öfter mal gemäht wer­den. Dient vor­wie­gend als Hun­de­wiese. Frei­wil­lig würde ich da nicht rein­lau­fen. Jugend­li­che kom­men im Som­mer gerne zum Vor­glü­hen am Sams­tag Abend hier­her. Kom­men auch gerne Sonn­tag früh mor­gens wie­der, sehr früh mor­gens, um den Abend aus­klin­gen zu las­sen. Gele­gent­lich bers­ten Bier­fla­schen auf der Straße. In den Hecken zu den Nach­bar­grund­stü­cken kann man gebrauchte Sprit­zen und Kanü­len fin­den. Die Jungs haben was gefun­den. Also der copain hat es gefun­den. Und dann ist es auf den Boden gefal­len. Mais on n'a pas fait exprès, aber das war keine Absicht. Und nur, weil da ein Loch in der Hosen­ta­sche war. Also in der Hosen­ta­sche des copain. Also eigent­lich ist der copain schuld. Ganz klar, das habe ich kapiert. Und sie haben es ja auch nur gefun­den. Und es war noch was drin. Mais on n'a pas su, aber das wuss­ten sie natür­lich nicht. Klingt nicht so, als wenn es sich um Jun­kie-Zube­hör han­deln würde. Was kann das schon sein? Und dann ging es ganz schnell, wirft der copain ein, und sucht gleich wie­der Schutz hin­ter mei­nem Sohn. Jetzt sei es schon bei der Pinie. Und sie haben es ver­sucht, aber es ist so heiß. On arrive pas à l'éteindre. Sie krie­gen es nicht gelöscht. Mais… -

Aus einer sei­ner Gepäck­ta­schen för­dert Éric einen Packen Kalen­der zur Aus­wahl. Alma­nach du fac­teur. Éric ist der neue Post­bote. Wir tref­fen uns ganz sel­ten und rein zufäl­lig am Brief­kas­ten. Wenn es was zu unter­schrei­ben gibt, tref­fen wir uns in aller Regel nicht. Kann dann am nächs­ten Tag, nicht jedoch vor 16 Uhr, im Post­amt abge­holt wer­den. Der Alma­nach ist mit klas­si­schen Moti­ven deko­riert. Blu­men, Land­schaf­ten, Kat­zen, Hunde, Eif­fel­turm, Son­nen­un­ter­gang. Innen Rezepte, eine Tabelle zu Son­nen- und Mond­auf- und -unter­gän­gen, wich­tige Tele­fon­num­mern, eine Karte des Dépar­te­ment und Plä­nen der wich­tigs­ten Städte von Fréjus bis Ban­dol. Meine Toch­ter würde Pferde wäh­len. Irgendwo in die­sem Packen muss auch der Alma­nach mit Pfer­den sein. Umschlag. Scheck nied­rig, immer­hin zwei­stel­lig. Solange ich meine Post am nächs­ten Tag, nicht jedoch vor 16 Uhr, irgendwo abho­len muss, gibt es für Éric kei­nen signi­fi­kan­ten Bonus.

Gelöscht? Das klingt nicht gut! Wahr­schein­lich fin­det meine Sieste hier­mit defi­ni­tiv ihr Ende.

Das war nur ganz klein!

Was war nur ganz klein?

On n'a pas fait exprès. Das war aus Ver­se­hen! Weil es run­ter­ge­fal­len ist.

Wo denn?

Da war ein Loch in der Hosen­ta­sche.

Schon klar. Und ihr habt es auch nur gefun­den. Und dass noch was drin war, konn­tet ihr auch nicht wis­sen.

Der Zei­tungs­bote tackert seine Neu­jahrs­wün­sche in selbst bedruck­tem Post­kar­ten­for­mat an das jour­nal. Und wünscht sich im glei­chen Atem­zug und in ver­we­ge­ner Ortho­gra­phie eine kleine Aner­ken­nung sei­ner uner­müd­li­chen Dienste. Zehn Tage spä­ter eine Mah­nung, wenn die Wün­sche nicht Gehör gefun­den haben soll­ten. Umschlag, Scheck. Bes­ser nicht zu knapp. Ich könnte mich zwar beschwe­ren, müsste das jour­nal aber sicher noch öfter auf­ge­weicht aus der Hecke fischen. Es ist eine Frage des län­ge­ren Hebels.

Die Wiese brennt. Viel­mehr das, was von einer Wiese nach einem tro­ckenen Som­mer übrig ist. Die Wiese hat das For­mat eines Fuß­ball­felds. Rechts eine Gara­gen­zeile, links Grenz­he­cken, Bam­bus, Busch­werk, kleine Bäume. Ein Glut- und Flam­men­mehr über die ganze Länge. Immer­hin kommt damit auch die Hun­de­scheiße weg. Büsche an den Rän­dern haben Feuer gefan­gen, die Hecke eines Nach­barn, eine Pinie ver­glüht gerade in einer Stich­flamme. Der Nach­bar steht in Bade­lat­schen mit einem gel­ben Gar­ten­schlauch an sei­ner Hecke. Das eher pro­sta­ti­sche Tröp­feln ist gegen Flam­men unter Mis­tral nicht ein­mal ein Trop­fen auf einen hei­ßen Stein. Das ist hoff­nungslos. Ohne Feu­er­wehr brennt gleich der Park­platz des Wohn­blocks gegen­über, denke ich mir, ach was, der Wohn­block selbst, der halbe Hügel, das halbe Dorf. Immer diese Aus­län­der, die nicht auf ihre Kin­der auf­pas­sen kön­nen, wird es hei­ßen. In der Ferne Mar­tins­hör­ner. Die sind hof­fent­lich auf dem Weg hier­her. Irgend­je­mand wird doch hof­fent­lich wohl die Feu­er­wehr alar­miert haben. Jemand aus dem Wohn­block hin­ter der Gara­gen­zeile viel­leicht. Oder der Nach­bar mit dem Gar­ten­schlauch. Wie war denn gleich noch die Num­mer? Natür­lich wie­der kein Handy dabei. Die Mar­tins­hör­ner mit einem Mal ganz nah. Keine Minute spä­ter sind sie da. Zwei Lösch­züge erst, dann eine Por­tion Police muni­ci­pale, dann noch mehr Feu­er­wehr. Am Ende wird die ganze Straße voll­ste­hen.

Mein Sohn und sein copain müs­sen mit­kom­men. Drin­gen­der Tat­ver­dacht.

Eine Woche spä­ter, zur Eröff­nung des Weih­nachts­markts, kom­men die Sapeurs pom­piers, die Feu­er­wehr. Kalen­der in Hoch­glanz­auf­ma­chung. Innen rich­tige Män­ner, gebräunt, mit Ober­kör­pern bis knapp an die Scham­grenze. Aus­ge­prägte Six­packs, mas­sive Ober­arme. Wenn sie in den War­te­zei­ten auf den nächs­ten Ein­satz nicht gerade ihre Gerät­schaf­ten polie­ren, arbei­ten sie an ihren Kör­pern. Vor der Kamera prä­sen­tie­ren sie Schläu­che beacht­li­chen Kali­bers vor Was­ser­spie­len. Vor Jah­ren gab es sie auch schon mal nackt, nur mit Hand­tü­chern beklei­det, unter damp­fen­der Dusche, vor dem Spind, im Halb­dun­kel. Vor unse­rer Tür, am Frei­tag Abend Ende Novem­ber, prä­sen­tie­ren sie sich ange­mes­sen beklei­det. Erin­nern sich an die Anek­dote mit mei­nem Sohn unddaran, dass die Wiese die­ses Jahr schon wie­der gebrannt hat. Wie­der Anfang Sep­tem­ber, wie­der Mis­tral. Die Gemeinde könnte sich wirk­lich mal bes­ser um das Brach­land mit­ten im Ort küm­mern. Ein Glück, dass wir so gut orga­nis­ert sind. Fünf Lösch­züge inner­halb von weni­ger als zehn Minu­ten. Das Eigen­lob ist über­flüs­sig. Keine kom­mu­nale Stru­kur funk­tio­niert in Süd­frank­reich so zuver­läs­sig wie die Feu­er­wehr. Der Wert mei­nes Schecks über­steigt den ihres Kalen­ders ein­schließ­lich Hoch­glanz­auf­ma­chung deut­lich. Sie sol­len sich auch in ein paar Mona­ten noch an mich erin­nern.

Die Kol­le­gen von der Police muni­ci­pale, mäkeln die Her­ren von der Feu­er­wehr bei die­ser Gele­gen­heit, konn­ten ihre Arbeit zwar mas­siv behin­dern, dies­mal jedoch kei­nen Ver­ur­sa­cher ding­fest machen. Sämt­li­che Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen mei­ner­seits ver­fü­gen übri­gens über ast­reine Ali­bis.

DiePolice muni­ci­pale ver­teilt keine Kalen­der.

© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

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Jeu de l'oie

Quoi? Was ist? -

Gérard ist sicht­lich genervt. Drau­ßen liegt die Tem­pe­ra­tur bei deut­lich über drei­ßig Grad, in mei­ner Wasch­kü­che ist es auch nicht küh­ler. Dazu tro­pi­sche Luft­feuch­tig­keit. Schweiß­trei­bend. Da hat ihm seine Frau am Tele­fon gerade noch gefehlt. Ich kenne das. Wenn mein Tele­fon den gan­zen Tag bis­her nicht geklin­gelt hat,muss ich mich unter die Dusche stel­len oder gerade ste­rile Hand­schuhe über­ge­streift haben um eine Péri­du­rale zu ste­chen. Klin­gelt bestimmt das Tele­fon. Ist nicht immer meine Frau.

Die müs­sen auf dem Küchen­tisch lie­gen. -

Gérard ist der erste vom Darty-Kun­den­dienst, der sich mit Namen vor­ge­stellt hat. Gérard vom Darty-Kun­den­dienst. Darty ist in Frank­reich sowas wie Saturn oder Media­markt in Deutsch­land. Vor einer hal­ben Stunde war Gérard noch vol­ler Zuver­sicht. Beim Kun­den vor­fah­ren, Maschine auf­schrau­ben, Teil aus­wech­seln, kurz tes­ten, alles funk­tio­niert wie­der, zufrie­de­ner Kunde. Papier­kram. Zehn Minu­ten grand maxi­mum. Und dann das: E:58 und E:67. Sein Teil ist das fal­sche. Er ist über­zeugt, der Kol­lege irrt. Aber nun, wo er schon mal hier ist.

Na da, wo ich sie immer hin­lege, neben der Obst­schale. Ich lege die Schlüs­sel immer neben die Obst­schale, weißt du doch! -

Drei Wochen frü­her. 14. Juli. Fei­er­tag in Frank­reich. Natio­nal­fei­er­tag. 2017 ein Frei­tag. Meine Frau ist im Haus­halt tätig. Wischen, put­zen, räu­men. Ich mache wahr­schein­lich mal wie­der nichts. Kann ich beson­ders gut, sagt meine Frau. Nichts machen, meint sie, kann ich beson­ders gut. Sagt sie immer dann, wenn sie mal was macht im Haus­halt. Kannst du mal die Wasch­ma­schine repa­rie­ren. Die geht nicht mehr auf. Maschi­nen gehen immer vor dem Wochen­ende kaputt.

Die müs­sen da sein, schau' doch noch mal rich­tig! -

E:58. Die Wasch­ma­schine ist fast fer­tig gewor­den mit einem Wasch­gang. Ein gel­bes Licht blinkt, das Fens­ter zur Wäsche lässt sich nicht öff­nen. Aus- und Ein­schal­ten hilft manch­mal. Dies­mal nicht. Ton­si­gnal, gelbe Leuchte, E:58. 58 sagt mir was, das war, glaube ich, schon mal. Oder war es die Spül­ma­schine? Oder was ganz Ande­res? Bestimmt hat ein Lego­teil die Pumpe blo­ckiert. Oder ein Ein-Cent-Stück. Ich habe auch schon Zahn­sto­cher in den Flü­geln der Pumpe ver­klemmt gefun­den. Man kann sich kaum vor­stel­len, wie ein Zahn­sto­cher dahin­kommt. Aber, mich kann nichts mehr über­ra­schen an der Pumpe. Kenne ich. Das gibt immer sol­che Feh­ler­mel­dun­gen, irgend­was mit E. Ich habe schon, frü­her mal, Kun­den­dienst kom­men las­sen, 78 Euro plus Mehr­wert­steuer für Anfahrt und die erste halbe Stunde, 39 Euro jede wei­tere halbe Stunde. Da wusste ich noch nicht, dass eine Pumpe ver­klem­men kann. Haben Sie schon mal an der Pumpe nach­ge­se­hen? Wel­che Pumpe? Macht 78 Euro plus Mehr­wert­steuer. Nicht ver­han­del­bar. Keine fünf Minu­ten spä­ter war der Kun­den­dienst wie­der weg. Haar­spange der Toch­ter. Drei Minu­ten alleine für den Papier­kram. Lehr­geld. Pas­siert mir nicht wie­der. An der Pumpe liegt es dies­mal nicht. Kla­rer Fall für den Kun­den­dienst.

Ich habe keine Ahnung, wo sie sonst sein kön­nen. Ich bin nach Hause gekom­men und habe sie auf den Tisch gelegt. So wie immer. Ganz sicher. -

Der tele­fo­ni­sche Kun­den­dienst von Darty funk­tio­niert auch an Fei­er­ta­gen. Ein biss­chen ver­zö­gert zwar, knappe Vier­tel­stunde War­te­schleife, aber immer­hin.

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Mon­tag schon wird ein Tech­ni­ker kom­men. Nach­mit­tags zwi­schen 12 und 17 Uhr. Wird sich der Sohn küm­mern müs­sen.

Ich habe jetzt eigent­lich keine Zeit, ich bin beim Kun­den. Frag' doch mal Mathieu, viel­leicht hat der sie genom­men, ce con­nard. -

Gérard ist mitt­ler­weile der dritte aus der Kun­den­dienst-Mann­schaft von Darty. Der erste kam tat­säch­lich schon am Mon­tag nach dem Frei­tags­fei­er­tag. Der Sohn war zuhause. Es muss ein kur­zer Auf­tritt gewe­sen sein. Blick­dia­gnose. E:58. Das kann nur das module de puis­sance sein, was auch immer das sein mag. Hatte er nicht dabei. Lei­der. Musste bestellt wer­den. Papier­kram drei Minu­ten. 89 Euro. Plus Mehr­wert­steuer. Ist mitt­ler­weile aller­dings ein Pau­schal­preis. Egal wie oft sie kom­men müs­sen. Immer­hin. Die Bestel­lung dau­ert zehn Tage. Neuer Ter­min am Sams­tag Nach­mit­tag in zehn Tagen. Zwi­schen 12 und 17 Uhr. Per Mail ein Ein­satz­be­richt. Oben das Motto, notre objec­tiv: vous satis­faire à 100%, unser Ziel: Ihre Zufrie­den­heit zu 100%.

Ça va, ça va, ich weiß, dass Mathieu kein con­nard ist, excuse-moi!Wie gesagt, ich arbeite! Ich weiß aber auch nicht, wo die Schlüs­sel sind! -

Sams­tag Nach­mit­tag, 17 Uhr. Gut zehn Tage spä­ter. Wir waschen unsere Wäsche eben solange im Wasch­sa­lon keine fünf Minu­ten ent­fernt. Der Tech­ni­ker, ein ande­rer als beim ers­ten Mal, hat noch, übers Dépar­te­ment ver­teilt, drei wei­tere Kun­den zufrie­den­zu­stel­len. Erwähnt er gleich zum Bon­jour. Die Logis­ti­ke­rin hat anschei­nend keine Ahnung von der Geo­gra­fie des Dépar­te­ments, sagt er, und Darty sei ohne­hin sowas von schlecht orga­ni­siert. Dass die über­haupt über­le­ben kön­nen, und das schon so lange! Er ist auch nicht ein­ver­stan­den mit der Blick­dia­gnose sei­nes Vor­gän­gers. E:58 wäre nor­ma­ler­weise der con­ver­tis­seur de fréquence. Oder beide, module de puis­sance und con­ver­tis­seur de fréquence. Hätte der Kol­lege ein­fach im Hand­buch nach­le­sen kön­nen. Aber viel­leicht kann der ja nicht lesen. Egal, sagt er, jetzt bin ich ja schon mal hier. Die­ser Herr weiß genau, wie man das anstellt mit der Kun­den­zu­frie­den­heit. Sein Bau­teil befin­det sich raf­fi­niert ver­steckt hin­ter der Vor­der­front. Ça, ils le savent très bien, ces boches, nous faire chier tout le temps. Über­setzt, im Ton abge­mil­dert: Das kön­nen sie, diese Deut­schen, uns das Leben schwer­ma­chen. Die Maschine ist von Sie­mens. Etwa zwan­zig Kabel mit zwan­zig ähn­li­chen Ste­ckern füh­ren zum module de puis­sance. Dasmodule de puis­sance muss das Gehirn der Maschine sein. Wäre aber idio­ten­si­cher, sagt er. Jeder Ste­cker passt nur in einer bestimm­ten Buchse. Am Ende ist alles wie­der ver­steckt hin­ter der Vor­der­front, irgend­wie. Und dann: E:67. Ob er sich nicht doch getäuscht haben könnte mit einem der idio­ten­si­che­ren Ste­cker? Immer noch kaputt. Aber anders. Noch kaput­ter viel­leicht. Sagte ich doch gleich, meint der Tech­ni­ker irgend­wie tri­um­phie­rend. Das andere Teil hat er jedoch nicht dabei, lei­der. Der Kol­lege von letz­ter Woche hätte es übri­gens im Wagen gehabt, weiß seine Soft­ware. Der muss es wohl irgend­wie eilig gehabt haben. Neues Ren­dez­vous nächs­ten Frei­tag. Nach­mit­tags. Ob er selbst wie­der käme, kann er natür­lich nicht sagen. Meine Zufrie­den­heit als Kunde erfährt zuneh­mend Ein­schrän­kun­gen. Drei Sterne von fünf viel­leicht noch.

Also, dann kann ich dir auch nicht hel­fen. Bor­del à cul! -

Gérard ist am Rande sei­ner Ner­ven­kraft. Das Tele­fon zwi­schen lin­kes Ohr und die Schul­ter geklemmt, hat er die Rück­seite der Maschine auf­ge­schraubt, zwölf Schrau­ben, das Bau­teil aus­ge­tauscht und fest­ge­stellt, dass die Maschine immer noch nicht funk­tio­niert.

Ich muss jetzt auch auf­le­gen, ich bin immer noch beim Kun­den. Bis­ous. Küss­chen.

E:67. Unver­än­dert. Hätte schlim­mer kom­men kön­nen, E:79 oder so. Habe ich ja gleich gesagt. Wie­der die­ser Recht­ha­ber-Tri­umph, den sein Vor­gän­ger schon so gut konnte.

Den Mon­tag dar­auf holt Darty die Wasch­ma­schine ab. Auf meine Anre­gung hin. Ich könnte nicht jede Woche einen Nach­mit­tag frei krie­gen, um ihm oder sei­nen Kol­le­gen beim Bas­teln zuzu­se­hen. Neh­men Sie sie mit und brin­gen Sie sie wie­der, wenn sie funk­tio­niert. Gegen Gérards Beden­ken. Ganz schwie­rig, das ginge nur mit Geneh­mi­gung von höchs­ter Stelle, François Hol­lande sozu­sa­gen. Ging dann doch. Gérard hat den Zei­ten­wech­sel ver­schla­fen, François Hol­lande ist nicht mehr der Chef. Mit Emma­nuel Macron geht alles bes­ser. Meine Kun­den­zu­frie­den­heit ist nichts­des­to­trotz auf einem Tief­punkt ange­langt, ein Stern noch. Weni­ger geht nicht.

Ich erin­nere mich mitt­ler­weile, wo ich die 58 schon mal gese­hen habe. Im Gän­se­spiel. Auf Feld 58, ganz kurz vor dem Ziel, stirbt die Gans. Oder schläft ein. Der Spie­ler muss von vorne begin­nen. Deut­sche Tech­ni­ker haben einen dis­kre­ten Sinn für Humor. E:58 heißt weg mit der Maschine, die ist rich­tig kaputt, hol' dir 'né neue. Sowas kön­nen deut­sche Tech­ni­ker. Die Maschine erkennt den Erst­kon­takt mit der Steck­dose des Kun­den. Die Obso­le­s­zens ist auf genau sechs Jahre spä­ter pro­gram­miert, ganz sicher außer­halb jeg­li­cher Garan­tie­op­tio­nen. Da kön­nen Gérard und seine Kol­le­gen machen, was sie wol­len. Sagt ihnen aber kei­ner. Dis­krete deut­sche Tech­ni­ker eben.

© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Veröffentlicht am Kategorien Alltag, Frankreich, französischSchlagwörter 14. Juli, Darty, Emmanuel Macron, François Hollande, Mediamarkt, Obsoleszens, SaturnSchreibe einen Kommentar zu Jeu de l'oie