Camp Catatonia

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listening to - 2 October 2022, 10:43 - katatonik

Schlangestehen, auch akustisch

Nils Frahm, Wiener Konzerthaus. Im Großen Saal hatte ich dort zuletzt, also vor zehn Jahren oder so, Mahler gehört, damals, als sich auf Twitter eine totale Mahler-Extravaganza der Herren malomalo und goncourt ereignete, von der ich mich aus der Ferne infizieren ließ. Der Große Saal ist bombastisch, groß, golden. Wenn ich vom Parkett nach oben zu den Seitengalerien blicke, muss ich immer an Nazis denken, an solche, die in Uniformen da oben sitzen, neue Machthaber, Herrenmenschenattitüde, keine Ahnung, woher das kommt, dann diese ganze Faschismusverinnerlichung, die DNA der oberen Gesellschaftsschichten, die harten Frauen; Jelineks Klavierspielerin, in der Haneke-Verfilmung ja auch viel Konzerthaus.

Als ich mich entschlossen hatte, eine Karte für das Konzert von Nils Frahm im Konzerthaus zu erwerben, hatte ich nicht näher darüber nachgedacht, wie diese Art von Musik mit einem solchen Saal denn zurecht käme; ich hatte auch nicht näher über die Art von Musik nachgedacht. Frahm macht ja so Einiges, seine Dub-Tracks mit F.S. Blumm (2×1=4) höre ich sehr gerne. Die älteren Sachen mit präpariertem Klavier, nun, das ist Musik für Menschen mit anderem Geschmack. Sein gerade erschienenes Album Music for Animals (2022) fällt aus der Reihe, weil ohne Klavier, Soundaufbau über lange Zeitstrecken, Ansätze zu Verdichtung. Ich hör’s nicht ungern grad, aber wenn es an elektronische Musik geht, finde ich anderes spannender.

Das Konzert war für 19:30 angekündigt, vor Ort hieß es dann aber, Beginn erst um 20:00. Es gab also noch ausreichend Zeit, einen Spaziergang in Richtung Stadtpark anzugehen, wo viele junge Menschen zu irre grauenhafter Musik eine gute Zeit hatten, und danach im Konzerthaus in diversen längeren Schlangen herumzustehen. Denn das Konzerthaus war gut besucht, verdammt gut; es gab Schlangen bei den Garderoben und Schlangen für die Getränkeversorgung. Eine bodenständige Garderobistin erzählte uns, die wir am Ende einer Getränkeschlange standen, von einer weiteren Weinbar im oberen Stock; wir also hurtig hin, um dann dort am Ende einer genauso langen Getränkeschlange zu landen, die sich allerdings auch überraschend hurtig bewegte. Schlangestehen verlangsamt die Zeit. Man glaubt immer, Jahre zu altern, spürt die Gesichtsfurchen sich merklich weiter vertiefen, und am Ende waren’s eh nur fünf Minuten. Nur Damentoilettenschlangen, die brauchen tatsächlich so lange, wie sie sich anfühlen. Und all diese Schlangen sind zurzeit alle fast maskenlos; kollektive Vernunft ist anders.

Nils Frahm also. Imposanter Bühnenaufbau, mit einer Glasorgel links, seinem präparierten Klavier und allerlei Elektronik rechts, er so am Hin- und Herwieseln und Schalten und Walten, so ganz agiler Elektroniker am Gerät. Es gab, passend zu “Music for Animals” den Versuch tierbezogener Publikumsanimation; Frahm bat das Publikum, Tierlaute zu machen, die er dann aufzeichnete und in die nächste Nummer verwob. Es gab beachtliche Lautungen der Art “Uga-Uga”, die Leute schenken sich ja wirklich nix, aber das Ergebnis war jetzt nichts, wofür ich auch nur eine Minute Schlange gestanden wäre. Vielleicht dachte Frahm, er müsse seine eher flächigen neuen Tracks aus “Music for Animals” einer Live-Situation irgendwie anpassen, sie aufpeppen, doch mehr Dramaturgie reinbringen und auch sein anderes gewohntes Publikum zufriedenstellen. Es gab jedenfalls immer wieder dazwischen die Klavierdinger für Menschen mit anderem Geschmack. Ich erinnerte mich an einen Abend in einer Hotelbar in Kyoto vor mehr als 25 Jahren, ein typisches Mittelklasse-Business-Hotel. Ich war zu einer Konferenz da, trank noch etwas, während eine dünne Pianistin in weißem Kleid nahezu in den Flügel kroch, den ich auch weiß in Erinnerung habe. Weichzeichnerpedal, zarte Frau kriecht klavierspielend in Flügel, Flügelkriechsound.

Auf einen Flügelkriechtrack folgte dann immer ein stärker elektronischer; da war ein Plan dahinter. (Das Konzert hatte einen Titel; es hieß “Music for Vienna”.) Recht vordergründige Transformationen und Modulationen, in einem eng gesteckten Harmoniebereich, sehr harmoniesüchtig überhaupt; einige Muster der akustischen Eskalation in den stärker elektronisch generierten Tracks fand ich interessant, aber sie waren aus recht simplen, flach klingenden Digitalsounds gebaut, hatten wenig Volumen und verpufften in ihrer Spannung. Wenige Momente, an denen ich dachte: aha, jetzt aber. Ich denke mir nicht oft während eines Konzertes, dass es einfach in dieser Kategorie so viel bessere Musik gibt, ich ziehe nicht oft kategoriale Vergleiche, weil mir die Härte eines solchen Urteils falsch erscheint, aber an diesem Abend kann ich diesen Gedanken nicht so einfach wegschieben. Mir fallen ad hoc eine ganze Reihe von anderen Elektronikmusiker*innen ein, denen ich es sehr gönnen würde, bekämen sie die Konzerthausbühne (falls sie das wollen sollten). Da hat sich jemand auf ein für ihn neues Territorium vorgewagt, das aber schon recht gut besiedelt ist. Das ist mutig, aber ich hätte es schön gefunden, wenn es live noch mutiger und sperriger gewesen wäre. Eine Konzerterfahrung wie in einer Schlange stehen, und dann, wenn man dran ist, gibt’s nix mehr. Das Publikum goutierte aber die Mischung; es gab standing ovations am Ende.

Frahm nahm sich dann auch noch selbst etwas Wind aus den Segeln, als er bereits vor seinem letzten Track ankündigte, danach noch zu einer Zugabe wiederzukommen. Er war in seinen Ansagen auch so self-effacing wie die Kings of Convenience, vielleicht macht man das jetzt so als Mann auf der Bühne, der kein Rockerschwein sein will, vielleicht ist das ein Ding. Es kam bei Frahm weniger entspannt rüber als bei den Norwegern; das mag auch am Saal gelegen haben, der Kommunikation mit dem Publikum gewiss nicht einfach macht. (Es gab auch Scherze über Berliner Konzertsäle, Turnhallen, nach Internetanbietern benannt, ohne Sitzgelegenheiten, und man solle ihn doch bitte öfter raus aus Berlin holen, sowas hört der Wiener natürlich gern, auch wenn er insgeheim mutmasst, verarscht zu werden.) Nun, demnächst vielleicht wieder Mahler.

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catatonia city - 28 September 2022, 21:09 - katatonik

Touching Convenience

Ist es denn verantwortbar, gerade jetzt in größere Konzerte mit vielen voraussichtlich maskenfreien Menschen zu gehen; man dekliniert sowas mental runter, mit unterschiedlichen Wörtern, die mit “verantwort-” beginnen, in Sätzen, die je nach Geneigtheit affirmativ sind oder verdammt viele Negationen enthalten. Jedenfalls ist es ein großer, weiter Raum, der sich zwischen moralischem Rigorismus, verhältnismäßiger Pragmatik und ungehemmtem Hedonismus eröffnet, und manchmal weiß eine einfach nicht mehr, wo in diesem Spektrum sie gerade steht.

Gestern nachmittags saß ich in einem Gespräch, in dem es um Wichtiges im Wert von einigen Millionen Euro ging; es war bedeutend — und unerwartet — konstruktiv. Man wird sehen. Mein Telefon vibrierte, C. lockte — auf Vermittlung des grundgütigen G. — mit einem Angebot einer Konzertkarte für die Kings of Convenience am gleichen Abend. Volkstheater Wien, der Historie nach eine grundbürgerliche, also anti-aristokratische Institution, architektonisch historistisch, und, hey, der erste Theaterbau in Österreich, der (nach dem verheerenden Ringtheaterbrand, und, ach ja, bei dieser Gelegenheit gleich wieder Werbung für den großartigen Sühnhaus -Film von Maya McKechneay) völlig elektrisch beleuchtet wurde. Das Haus macht was her.

Ich fühle mich post-infektiös immer noch im Zustand “immuner wird’s nicht”. Frage mich angesichts stark steigender Infektionszahlen, wie lange ich das noch sein sollte, aber gestern dann doch noch, auf jeden Fall. Vor ein paar Monaten hätte dieser Text mit einer besorgten Bemerkung darüber begonnen, wie wenige Maskentragende zu sehen waren, jetzt ist mir nicht danach, das offensichtlich Ungescheite festzuhalten.

Es waren vortreffliche Karten, die C. da ergattert hatte, fast ganz vorne, sehr mittig. Hätte ich ein Getränk gehabt, hätte mir Erlend Øye nahezu in selbiges spucken können. Øye und sein Kumpel Eirik Bøe schienen vom Theater (ausverkauft) atmosphärisch sattsam beeindruckt. Ich war noch nie bei einem “Kings of Convenience”-Konzert, wäre ohne das Kartenangebot vermutlich auch nicht hingegangen, aber es passte als wohlgestimmter Abschluss eines produktiven, doch eintönigen Sitzungstages.

Da stehen also zwei Männer mit Gitarren auf einer riesigen Bühne (im zweiten Teil von Bassist und Schlagzeuger begleitet, beide mexikanisch), im Dunkeln, von Lichttropfen erhellt. Der eine (Øye) hat seine Schmächtigkeit aus jungen Jahren kultiviert, der andere (Bøe) befasst sich erkennbar mit Muskelaufbau. Sie sind weit über 40, haben aber immer noch eine total jungenhafte Dudeität, die sie mit etwas verschrobenen, liebevollen und nur selten unfreiwillig unkomischen Kurzerzählungen zwischen den einzelnen Nummern leicht ironisch umschmeicheln, als hätten sie die große weite Welt südlich von Bergen gerade erst entdeckt, als hätten sie die mütterlichen Sofas mit Karodecken gerade erst gestern hinter sich gelassen.

Die Jungs haben ihr Publikum mit verdammt wenig Einsatz im Griff; das Theater hängt ihnen an den Lippen. Das ist wie so ein Lagerfeuergitarren-Brüderpaar, in diesem schon sehr lange elektrifizierten Theater. Sagt Øye, wir sollen mit den Fingern auf 2 und 4 mitschnippen, dann schnippen wir alle mit; sagt er, wir sollen von unsern rotsamtenen Sitzen aufstehen, stehen wir auf; sagt er, wir sollen in einem bestimmten Rhythmus klatschen, dann tun wir auch das, und sogar gewisse Refrains singen wir ohne weiteres mit, und wenn es Zeit wird, sich wieder hinzusetzen, dann spüren wir das alle, gleichzeitig, und machen das, einfach so. Plötzlich ist alles eine simple Geste, unspektakulär und berührend.

Am Ende vibriert das ganze Theater vor begeistertem Beifall, die Menschen stampfen mit ihren Füßen, der Raum hallt und bebt, und das fühlt sich plötzlich überwältigend gut an und so gar nicht nach Pestzeitalter, und gerade deshalb und sogar für Menschenmassenhassende wie mich. Øye und Bøe kommen wieder, sie stellen sich ganz vorne an den Bühnenrand und spielen die Zugabe ganz ohne Mikrofone und Verstärkung. Man hätte eine Haarnadel fallen hören können, hätte eine Dame in der dritten Loge ganz oben ganz hinten eine verloren.

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dreams - 26 September 2022, 22:23 - katatonik

Steinereignisse

Bilder in einem Traum vor ein paar Tagen, karge Landschaften, zerklüftet, unförmige Felsen, riesige Berge, einer da, mit einem Spalt, aus der Ferne besehen, kein kleiner Spalt, wie vorsorglich ausgefräst, und plötzlich fiel da von schräg rechts oben aus dem Himmel ein Betongebäude hinein, wie so ein nicht ganz passender Puzzlestein raste ein quaderförmiger brutalistischer Betonklotz in den Felsenberg hinein, so in Form einer Halle geschnitten, ja, eine Konzerthalle vielleicht, eine recht flache. Da steckte dann also eine Konzerthalle einfach so im Berg, schräg. Und es splitterte Stein ab, in mehreren Wellen, immer wieder gab es so kleine Steinsplitterregen, wie bei einem Hauptbeben mit Nachbeben, und ich stand in recht sicherer Ferne und wies jemanden darauf hin, was da geschehen war, es war so unglaublich, keine Art von Ereignis, mit der man jemals hätte rechnen können, auch nur annähernd, nicht einmal in Traumwelten, in denen so viel nicht der Rede wert ist, was sonst aufgeregt besprochen würde. Und dann steckte dieser Betonklotz da im Felsen, in einer Höhe, in die niemand ohne Fluggerät jemals kommen könnte, und man dachte darüber nach, wie sich nachfolgende Generationen diesen Anblick verständlich machen könnten und fand keine Antwort.

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film - 25 September 2022, 21:24 - katatonik

Sound as character

“When I recall Godard’s early work, I think about his use of sound as much as anything else, including all those car horns and cash registers that are not only the sounds of modern life but become, in Godard’s hands, extra characters in his movies from the mid-to-late Sixties on. Think of that extraordinary tracking shot in the supermarket in the underrated Tout va bien (1972). Oranges, coffee, oats, paper towels, meat, are checked out and purchased at a rapid rate while Jane Fonda, brilliantly cast as an American reporter named Suzanne, walks back and forth, observing commerce at work.”

Hilton Als, Godard’s Women (New York Review, Sept. 23, 2022)

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catatonia city - 24 September 2022, 18:03 - katatonik

Baumstämme (und Zwerghühner)

Im Konzert diese Woche ein Gitarrist mit Bäumen als Oberarme, das schärft den Blick für Baumstämme beim Spaziergang. (Zwischendrin war eine Gruppe Zwerghühner aus dem Tiergarten Schönbrunn in den Park ausgebüxt.)

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everyday excess - 23 September 2022, 20:01 - katatonik

Wochensprünge

Ich beginne am Freitag, aber weil dieser Text am Donnerstag begann, beginne ich eigentlich am Donnerstag. Angesetzt war für diesen Tag vormittags ein Verwaltungsgespräch, ein routineartiges Abfragen von Leistungen des Instituts der letzten eineinhalb Jahre, eine Gelegenheit für das Besprechen von Nachbesserungen und das Ansprechen von Schwierigkeiten. Das Gespräch wurde durch die kurzfristig angekündigte Präsenz eines neuen Mitglieds der Führungsebene der EINRICHTUNG, wie ich meinen Arbeitgeber liebevoll nenne, diplomatisch aufgewertet, was mich — ich greife zum Mittwoch zurück — zu eingehender Beschäftigung mit Strategieplänen führte. Man führt solche Pläne als Institutsleiterin ja mit, denkt sich mal dies, mal jenes, diskutiert hin und her, wägt ab, macht sich Notizen und trifft zu bestimmten vorangekündigten Zeitpunkten Festlegungen darüber, was man plant, die kleinen Schritte in größere Linien einpassend. Hier aber stand ich vor der Anforderung, die Gelegenheit zu nützen, Ausgewähltes anzubringen, Dinge rhetorisch vorzubereiten, in Verzahnung mit noch größeren Plänen, die im Fluss sind. Es war heikel, das an einem — dem Mittwoch — Nachmittag zu tun, denn solch komplexe Themen müssen durchdacht und durchdiskutiert werden; sie haben Implikationen, die man leicht übersieht. Mir war nicht ganz wohl dabei.

Der Donnerstag also, er begann mit dem Eintreffen der ersten Verwaltungsmitarbeiter*innen zu dem Gespräch (es wurden sechs insgesamt, von verschiedenen Abteilungen). Man lächelte und lachte auf, die Atmosphäre des leicht angespannten Scherzens, nach Art von “wie verschicke ich Excel-Tabellen mit Schokolade, und könnten da die Quantenphysiker nicht endlich was erfinden?”, da geht es minutenlang nur mit solchen Bemerkungen und Auflachen dahin. Einige der Damen waren neu in ihren Funktionen; es war wichtig, sie wichtig zu nehmen. Ich schenkte ihnen höchstpersönlich Wasser ein, solche Gesten zählen. Die Führungsperson kam etwas verspätet und entschuldigte sich mehrmals.

Es geht bei solchen Gesprächen nie nur um das, worum es laut Tagesordnung geht. Mitunter nicht einmal hauptsächlich. Es geht um Beziehungspflege und Beziehungsdemonstration, es geht nicht nur um die Verwaltis und Führis und mich, sondern auch und manchmal sogar vor allem um sie untereinander. In diesem Fall ging es gewiss auch darum, dass gegenüber der neuen Führi ein gutes Bild abgegeben wird, von allen (und für sie ging es auch darum mitzubekommen, wie sich die Verwaltis zu den Forschis verhalten). Da konnten die Verwaltis noch so oft sagen, nein, nein, das wäre nur ein freundlicher Besuch. Subtext ist Subtext.

Ich würde nicht behaupten, dass mir solche Gespräche Spass bereiten, aber ich kann schon zu Hochform auflaufen, das muss ich unbescheiden festhalten: jonglieren mit den Bällen, die geworfen werden, Verwaltungssprech und Verwaltungsfragen beantworten, Verständnis simulieren, zeigen, dass ich jede, aber auch jede kleine Information über das Institut und seine Mitarbeiter im Griff habe, gleichzeitig immer auch noch wissenschaftlich Substanzielles sagen, um — in diesem Fall — die neue Führi noch mehr für das Institut zu interessieren, einzunehmen, die Grundlage für künftige Gewogenheit zu legen. Alle ernst nehmen, allen zuhören, Springen von A nach B, Register ziehen, dabei immer kurz fassen, rasch zum Punkt kommen, das Publikum nicht verlieren, Fragen stellen, Pausen zur richtigen Zeit, Zurücknehmen, an den richtigen Punkten der geeigneten Person Macht über das Gespräch übertragen, Dankbarkeit für Dinge simulieren, die im Grunde selbstverständlich sind. Es ist wie Standup-Comedy, nur im Sitzen, mit anderen Subtexten. Die Atmosphäre war gelöst, ich schnappte faszinierte Blicke auf, hey, es lag fast Verführung in der Luft.

Eigentlich hätte ich mit dem Donnerstag aber auch jetzt beginnen können, als ich einige Stunden nach dieser Szene Fäden über Übersetzungstheorie und -praxis zur philosophischen Literatur des Buddhismus zusammenzuspinnen versuche, für einen Vortrag, im Büro, dazu Musik. Ich las einen 84seitigen Aufsatz von C., einem in seiner analytischen Schärfe genialen Denker, der einen im Fach unüblichen, sperrigen Stil pflegte, stark von analytischer Philosophie und Linguistik getragen. C. hatte immer einen Hang zur Polemik, der aus seiner isolierten Position im Fach erklärbar war, aber außer Kontrolle geriet, sich in seinen späten Jahren in den Vordergrund spielte und das inhaltlich Wertvolle an seinen Gedanken überdeckte. Persönlich war er im Gegensatz dazu streichelweich und lieb; seine bunten Hemden und die Teddybären, mit denen er reiste (und sprach), waren legendär.

Auch ich wurde irgendwann zum Opfer seines geschriebenen Gifts, in gerade jenem Aufsatz (vor 13 Jahren erschienen). Ich reagierte damals nicht; es schien mir müßig, mich mit einer Kritik zu befassen, die sich auf eine kurze Buchrezension stützte, die ich als Doktorandin verfasst hatte. Der Sache nach hatte er mit einigem recht, mit anderem nicht. Der Ton war unnötig verletzend, er arbeitete mit Unterstellungen. Das Ganze war im Endeffekt lächerlich und schäbig. Vor einigen Jahren starb C. in Costa Rica. Ein Auto fuhr ihn in einer dunklen Straße an, dem Vernehmen nach war er sofort tot. Verdammt schade.

Ein Doktorand sitzt noch an seinem Arbeitsplatz in der Bibliothek, sonst dürfte das Institut leer sein; es ist 19:30. Ich aß gerade ein Gemüsecurry am Markt in einem Lokal mit Duttkellner, nur junge Frauen mit langen Haaren da, und versuchte, nach Lektüre von C.s Aufsatz die Fäden des Vortrags in meinem Notizbuch zu einem Ablauf zu weben. Das Curry suppig, aber schmackhaft und nahrhaft, so kamen mir auch meine Gedanken zu dem Vortrag vor.

Es wird kein genialer Wurf voll Biss und Saftigkeit, aber ein solides Stück Arbeit, für in drei Wochen, eine Konferenz in Berkeley, seit 2018 zum ersten Mal wieder, wo es gewiss noch durchgeknallter sein wird mit den Lebensbedingungen für Studierende (Mietenexplosion), was heisst, für alle (Trockenheit, Feuer). A. meinte damals schon, er ginge davon aus, Kalifornien müsse wohl irgendwann zwangsevakuiert werden, das sei einfach nicht mehr lebbar. Auch diesmal werden wir im Berkeley City Club untergebracht werden, einem architektonisch sehr überkandidelten Hotel mit einem wunderbaren Pool im Keller, länger als 25 Meter, glaube ich. Wird’s den noch geben? Schon 2018 wurde man dort in den Duschen zu sehr sparsamem Umgang mit Wasser ermahnt.

Vielleicht wäre es auch besser gewesen, noch bis zum Dienstag zurückzugehen. Am Vormittag eine Besprechung des leitenden Gremiums für einen Riesenantrag, Abklopfen von Themen wie governance structure und Budgetierung. Herzliche Atmosphäre, angespannt, da wir auf eine nahe Deadline zusteuern, aber gelöst. Gemeinsames Mittagessen in dem israelischen Lokal, wo die Kellner immer so in the hood -mäßig mit Hoodies die Falafel herumschupfen. Man fühlt sich immer so lässig da. Dieses Gremium ist jetzt schon weit jenseits der Auflachdynamik, im Stadium des wissenden Schmunzelns.

Nachmittags dann drei Stunden Besprechung im größeren Kreis bei zweifelhaften CO2-Werten, wie mein mittlerweile angeschafftes Meßgerät mit USB-Anschluss mitprotokolliert. Struktur und Themen, Planbares und Unvorhersehbares, wie schaffen wir aus gut 30 Forscherpersönlichkeiten ein kohärentes Ganzes, das dennoch allen genug Freiräume lässt, Gemeininteresse und Einzelinteresse. Ich habe solche Prozesse schon häufiger erlebt als andere, kann den Advocatus Diaboli spielen, versuche, aus denen, die noch sehr in ihren Fachsprachen stecken, mehr herauszukitzeln, Bewegung in Richtung des größeren Arguments anzuregen, des breiteren Zusammenhangs. Es klappt nicht, die am stärksten Angesprochenen empfinden es als eine Art selling out und ein Sich-Herablassen auf das Niveau von Dümmeren, wenn sie aus der historischen Einmaligkeit ihres Forschungsgegenstandes heraustreten und das allgemeine Phänomen benennen sollen, das Thema ist.

Ein Teil der Projektgruppe spaziert dann den Donaukanal entlang in Richtung Prater, wo in einem Wirtshaus zu Abend gegessen wird. Gelöstes Plaudern bei Gegenwind. Die Projektgruppe ist überhaupt sehr peripatetisch; wir gehen immer irgendwo, zwischendurch oder danach, das ist erstaunlich produktiv. Im Wirtshaus mit einem laut und treffsicher schlecht scherzenden Kellner ein deftiges Abendessen. Es endet mit Schnäpsen, großzügig eingeschenkt “für Erwachsene”; im Dunkeln spazieren wir durch den gerade noch aktiven Vergnügungspark zur U-Bahn-Station. U-Bahn-Gespräch mit einem Kollegen aus Deutschland, er in Wien, die Frau in Köln; sie hat dort den besseren Job. Austausch über das Dasein und Zusammensein bei räumlicher Entfernung, Flughafenblues, Bahnkatastrophen; ich kenn das ja nur zu gut. Man macht das Beste draus, klar, aber will man eigentlich so leben? (Nein.)

Der Donnerstag, er führte dann abends noch in ein Noise-Konzert in einem Wiener Konzertkeller, den ein experimentelle Konzerte veranstaltender Verein für diesen Abend gebucht hatte. Zwei Bands, Nadja (Berlin; Leah Buckareff, Aidan Baker) und die australischen My Disco (Melbourne/London; Ben and Liam Andrews, Rohan Rebeiro). Ich war von beiden beim Vorab-Hören nicht wirklich begeistert, fand sie aber interessant genug, um hinzugehen. Zudem würde gerade an diesem Abend Herumstehen in einem dunklen Keller das Richtige sein, Sich-Wiegen zu dumpfen, dröhnenden Vibrationen, yay.

My Disco erwiesen sich im Konzert als spannender, obwohl ich das T-Shirt von Aidan Baker auch sehr passend fand. My Disco bekommen einen sehr starken Drone-Sound hin, auf Tonträger eher so ho-hum, live fährt das so richtig in die Knochen und bringt Operationsnarben in gerade noch tauben Regionen zart zum Vibrieren. Der Gitarrist Ben Andrews, ein stämmiger, aber nicht besonders groß gewachsener Mann mit Bäumen als Oberarmen und weißgrauen Drahtbüscheln als Haupt- und Gesichtshaar, na seavas. In der Pause treffe ich zufällig P., der früher im Wohnzimmer-Lokal hinter der Bar stand; wir plaudern drauflos, als hätten wir uns nie nicht gesehen.

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film - 19 September 2022, 20:08 - katatonik

Notizen zu Moonage Daydream (Brett Morgen, 2022, 140min)

Es hilft gewiss, Fan von David Bowie zu sein, um diesen Film genießen zu können. Als interessierte, aber bestenfalls lückenhaft aufmerksame Beobachterin seines Werks fiel mir das schwerer. Eine mehr als zweistündige Collage, Archivmaterial, unveröffentlichte Konzertmitschnitte, Interviews mit Bowie, Aufnahmen von Bowies Reisen, von Bowie beim Malen, rasche Folgen von Zwischenschnitten aus der Filmgeschichte. Einiges zu genießen, manches spannend und interessant, die Gestaltung repetitiv, geradlinig, wenig inspiriert, recht adorativ und fasziniert; nicht mein Stil.

Die filmhistorischen Zwischenschnitte am unmotiviertesten, in ihrer Geschwindigkeit dann einfach nicht nachvollziehbar. Futter für Distinktionsgewinnler*innen (hallo, Nagisa Oshima, hallo Carl Theodor Dreyer), flirren rasch vorbei; es ärgert mich, wenn ein Film so mit meiner Aufmerksamkeit spielt, dass sie ins Leere läuft; es ist manipulativ (starke Clockwork Orange -vibes). Ich will im Kino nicht überwältigt werden.

Wie persönlich die Interviewer*innen manchmal sind; es kommt mir nicht nur platt, sondern sehr aufdringlich vor, einen Künstler zu fragen, wo nun der echte Er sei in all diesen Kunstfiguren, die er geschaffen hätte, und an seiner Persönlichkeit herumzubohren. Wie charmant Bowie mit Dummheiten und Zudringlichkeiten umgeht, als junger Ziggy noch mit provozierender Forschheit, älter dann bewundernswert gelassen.

Die Berliner Zeit, das Sprechen über den kreativen Prozess, wie es darum ging, etwas aufzubrechen, etwas neu zusammenzusetzen, Eno, Burroughs. Da gern mehr davon, viel mehr, aber genau das, das Hinsehen auf den Prozess, verschwindet dem Film aus dem Blick.

Die vielen Reisen, Afrika, Ozeanien, Australien, Japan; Aufnahmen, wie Bowie mit Menschen “vor Ort” musiziert (man erfährt glaube ich nicht, welcher Ort, man erfährt überhaupt sehr wenig), auch quasi-schamanistische Rituale, die ich nicht einordnen kann (Flüssigkeit, die in Bowies Richtung verspuckt wird), und dann diese meine Frage, wo das eigentlich alles ist in seiner Musik. Ist da nicht eine Diskrepanz zwischen dieser Neugier auf die Welt, die man sieht und spürt und dem, was der Mann musikalisch hinterlassen hat, so ab den 1990er Jahren?

Bowie in den frühen 1970ern als Teenage-Schwarm, mir unbekannt gewesen. Ich war zu jung, um das mitgemacht haben zu können. Die Aufnahmen total begeisterter Mädels und Jungs, die seinen Stil übernahmen, das hat mich überrascht.

Er spricht viel über sein Schreiben; ich hätte gerne mehr Texte im Film gehabt, gehört, gesehen. Mit Ausnahme der Musik — es gibt ja Konzertmitschnitte vorzuführen — verlässt sich der Film darauf, dass man weiß, was Bowie gemacht hat, es ist kein Film, der Bowie vorstellt oder sich zu seinem Werk verhält, Zugänge eröffnet. Vielleicht muss man das bei Bowie nicht, oder glaubt, es nicht zu müssen.

Momente aus Bowies reflektierenden Erzählungen: Chaos, Fragmentierung, damit umzugehen, umgehen zu müssen und zu wollen; Isolation, der Zustand einer inneren Entfernheit von Menschen; Liebe erst als etwas, das ablenkt und abhält von der Kunst, dann später als das viel Wichtigere. Vergänglichkeit, großes Thema, Verweise auf den Buddhismus (der im übrigen ein sehr reichhaltiges Repertoire von Reflexionen zur, aber auch Theorien der Vergänglichkeit hervorgebracht hat, das hier nur so als Zwischendurchbelehrung). Es gibt übrigens einen japanischen Werbefilm für “Crystal Jun Rock Shochu” (also ein alkoholisches Gesöff) mit Bowie aus dem Jahr 1980, dazu die Nummer “Crystal Japan”. Am Ende des Spots, aus dem auch Moonage Daydream zitiert, wird japanischer Text eingeblendet, übersetzt “Wenn sich die Zeiten ändern, ändert sich auch der Rock (Shochu)”. Von wegen Vergänglichkeit.

Bowie und Japan. Nicht dem Film, sondern dem Internet entnehme ich, dass Bowie in den 1960er Jahren bei Lindsay Kemp studiert hatte — Tänzer, Pantomime, Schauspieler, Regisseur —, der seinerseits vom Kabuki beeinflusst gewesen war.

“Bowie in turn drew on Kemp’s teachings in the construction of his Ziggy Stardust persona. The iconic Ziggy lightning bolt across the face reflects the boldness of kabuki makeup, as did his appearance in the Life On Mars video.”

Einige der Bühnenkostüme von Ziggy Stardust von Kansai Yamamoto designt, die großartigen Fotos von Masayoshi Sukita über Jahrzehnte hinweg.

Es war mir bislang übrigens nicht in den Sinn gekommen, Bowies Mimik mit dem Kabuki in Zusammenhang zu bringen, das Starre und Stilisierte, zum Teil auch das Make-Up; es ist aber stimmig.

(Bilder via diesen Account auf Twitter. Das erste stammt von Les Lambert und ist aus 1976, das mittlere von Michael Marks, Olympia Stadium, Detroit, 29. Februar 1976, das dritte stammt wohl ebenfalls aus 1976, dafür konnte ich keine Credits finden.)

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geschlechtsleben - 18 September 2022, 15:34 - katatonik

Spurensuche II: ausgesaugtes Begehren

Die sexuell fordernde Vampirin, die Catherine Deneuve in Tony Scotts “The Hunger” (1983) spielt, ist weit von der verführerischen Versicherungsdetektivin entfernt, die sie in “The Thomas Crown Affair” (1968) gab (Spurensuche I).

Die Geschichte von “The Hunger” ist, wie viele Vampirgeschichten, kein Meisterwerk der Logik. Dem Film lassen sich einige Pointen abgewinnen, aber als Film wäre er gestalterisch nicht der Erwähnung wert, würde nicht Deneuve an der Seite von David Bowie und Susan Sarandon darin spielen, und, um es auf den Punkt zu bringen, ginge es nicht um Sex.

Deneuve und Bowie spielen ein jung und kraftvoll aussehendes, doch im Grunde sehr, sehr altes Paar von Vampiren, die in New York leben und jagen. Der Bowie-Vampir altert plötzlich sehr rasch, weshalb man die Schönheit David Bowies in diesem Film auch nur recht kurz mitbekommt (Abt. how to best burn your star vehicles). Diesen rapiden Alterungsprozess durchlaufen alle Partner der Deneuve-Vampirin, die sich dann bald von ihren Partnern abwendet, in diesem Fall aber den armen Bowie-Vampir netterweise zu retten versucht, indem sie sich an eine Gereontologin ranmacht, die von Sarandon gespielt wird.

Die erste im Film dargestellte Jagd der Vampire, sie beginnt in einer New Wave-Disco. Die beiden Vampire suchen sich willige junge Opfer, alles getrieben von coolness. Es kommt zu Sex und blutigem Gemetzel. So ist das mit der New Wave, wenn man sich auf die Ökonomie der Coolness einlässt, wird man buchstäblich ausgesaugt.

Danach berührende Szenen zwischen den Vampiren, tiefe Blicke, Zärtlichkeiten, Annäherungen unter der Dusche. Man wäscht das Blut ab, lässt die Wildheit der Jagd hinter sich, ist bereit für eine vertraute Begegnung mit dem Partner von seit Hunderten von Jahren. Kühles Blau, Wasserdampf, der die Ränder der Körper aufweicht; fließendes Wasser, das die Körper verbindet; Tropfen, die die gesteigerte Empfindungsfähigkeit der Haut anzeigen. Sind visuelle Assoziationen zu “Alien” von Tony Scotts Bruder Ridley, wenige Jahre zuvor rausgekommen, zufällig? (“Blade Runner” kam übrigens auch ein Jahr früher raus, 1982.)

Das Verhältnis der Vampirin zur Gereontologin ist ein ganz anderes, naturgemäß. Die Gereontologin muss gefügig gemacht werden, sie muss zur Vampirin verwandelt werden und gleichzeitig zur gleichgeschlechtlichen Sexualität hin geöffnet, das ist ein- und derselbe transformative Prozess. Er könnte emanzipatorisch sein, weil sich die Gereontologin von Beschränkungen des Menschseins befreit — und von ihrem recht öden Liebhaber —, kann es aber nicht sein, weil sie den Interessen der Vampire unterworfen werden muss und das Vampirsystem an sich letztlich einfach nicht emanzipatorisch ist. Sorry, junge Leute aussaugen in großen Mengen, das ist kein nachhaltiges Gesellschaftsmodell.

Für die Deneuve-Vampirin geht die Geschichte nicht gut aus; sie wird — das ist narrativ nicht besonders stimmig — ebenfalls von rascher Alterung befallen, und die am Dachboden abgelegten ehemaligen Partnervampire zerfallen alle zu Staub. Die Gereontologin-Vampirin übernimmt die Rolle der Hauptvampirin als Magnet junger, schöner Menschen, die sich von ihr aussaugen lassen wollen. Begehren ist nur um den Preis von Unterwerfung unter ein beinhart kapitalistisches System zu haben, das kann schon eine Pointe sein.

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listening to - 17 September 2022, 20:21 - katatonik

Fugazi, Repeater (1990)

Fugazi, Repeater (1990). Eine der wenigen Platten, die ich damals kaufte. Mochte die Indie-Plattenläden und ihre Atmosphäre männlicher Connoisseurschaft und Kumpelei einfach nicht (wo zur Hölle hab ich die damals gekauft?), ging lieber auf Konzerte, hörte Radio, hing in Lokalen mit Musik herum. Fugazi im Flex gesehen, damals noch im 12. Bezirk in einem Keller; klare, verschwitzte, hart konturierte Energie (schöner Text über die Band).

Platte oft angehört in einem Winter vor dem Gasofen mit der Gasflasche, keine andere Heizung im Mini-Garconniere-Loch mit den papierdünnen Wänden zu den Nachbarn. Pfeifendes Grundgeräusch des Gasofens. In einem der zwei wackeligen und plüschigen stahlblauen Schalenfauteuils gekauert, die mir der SM-engagierte Kameramann einer Indie-Filmproduktion geschenkt hatte. Schwarztee mit Milch, literweise, es könnte der Winter nach der Reise auf die Kanalinseln gewesen sein, der mit dem Genuss von Schwarztee bis zum Blasenschwächenharakiri. Vinylknacksen. Das Verhaltene, Kontrollierte in der Wut, das Zurücknehmen und Reduzieren bis zu einem sehr trockenen Schlagzeug und einer Basslinie, bis dann die Gitarren wieder reindreschen (Shut the Door, Turnover). Erinnerung daran, wie beruhigend ich den Sound fand. Nachbars loved me even more than before.

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ghosts - 16 September 2022, 09:10 - katatonik

Geister und Gespenster II: das Mitschwingen des Ungeschehenen

Das Thema “Geister”, das mich nun schon einige Zeit beschäftigt, also, es nahm seinen Ausgang in einem ungewöhnlichen Traum, in dem jemand vorkam, den ich vor längerer Zeit etwas besser kannte. Es blieb das Gefühl zurück, da würde jemand, etwas, in mir herumspuken. Unheimlich, aber außerordentlich belebend. Ich beschäftigte mich damit, ließ mich von meiner Neugier durch das Internet führen, kam mir dabei freilich unangenehm aufdringlich vor, so, als würde ich vor jemandes Haus herumlungern (obwohl, im Vergleich zu Hanna Engelmeiers Thermomix-Exerzitien blieben meine Erkundungen doch eher an der öffentlichen Außenseite). Bald war da eine unauflösliche Mischung, aus persönlichen Erinnerungen, aus öffentlich nachvollziehbaren Versatzstücken einer weit verstreuten und nicht stringent gepflegten virtuellen Präsenz, die auch in neue Richtungen führten, die mit der erlebten Vergangenheit nur noch wenig zu tun hatten. Es kam zu Erkundungen und Entdeckungen durchwegs spannender Art.

Es schien mir passend, über diese Gemengelage, dieses verwirrende Gemisch, mithilfe der Metapher von Geistern und Gespenstern nachzudenken. Die Gemengelage, sie hat übrigens auch mit dem Älterwerden zu tun, mit der vermehrten Präsenz von Schichten der Vergangenheit im Gedächtnis, und mit sich spürbar ändernden Mechanismen des Gehirns, mit Vergangenheit umzugehen, auch mit sich spürbar ändernden Emotionslagen. Ich vermute, dass mich das noch längere Zeit beschäftigen wird.

Vielleicht leben viele mit dieser Art von Geistern, ohne sie aber so zu benennen. Ich bin mir auch nicht mehr ganz sicher, ob die Metapher trägt, but I’ll run with it for the time being. (“Wenn man mal zugibt bekloppt zu sein, geht’s eigentlich”, sagt jemand aus der Hood auf Twitter; das ist völlig korrekt.)

Es gibt Menschen, die aus einer Leben verschwinden. Im Extremfall durch ihren Tod, aber hier geht es mir um die anderen – um die weiter Lebenden, zu denen man den Kontakt verliert, von einer Seite gewollt, von beiden, oder auch anders. Manchmal muss das aus Gründen sein, man will es vielleicht sogar, aber es kann auch dann Schmerz verursachen, und zwar wiederkehrend. Manchmal ist es einfach ein leichter Abschied. Es weht Menschen auseinander, es kommt zu einer Art würdevollem Auseinanderdriften. Manchmal ist ein Abschied gar nicht als Abschied für länger gemeint, geschweige denn für immer, aber es wird dann ein längerfristiges Auseinandergehen daraus, unausgesprochen; das erweist sich kurzfristig als, nun ja, würdevoll, ohne Bitterkeit, aber längerfristig mitunter als überraschend schmerzvoll. Jedenfalls Ambivalenzen ohne Ende im Einander-Verlieren, das mehr ist als nur ein Einander -Verlieren, dazu später mehr. Wenn man häufiger an verschiedenen Orten lebt oder ein Leben führt, das eine*n mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammenbringt, bleiben jedenfalls potenziell viele Geister zurück, während die entsprechenden Menschen noch am Leben sind. Da kommt einiges zusammen. Die Geister stehen für diese Orte, für andere Zeiten, für deren Politik, deren Gesellschaften und Gestimmtheiten, für Erlebtes und Erfahrenes, the whole package; sie stehen jedenfalls nicht nur für die Menschen, für die sie vorrangig zu stehen scheinen, auch wenn die Menschen Kristallisationspunkte sind, in denen sich alles verdichtet. Aber da ist noch mehr.

Die Geistmetapher ist tückisch. Sie verführt zum Begriff des Spuks, legt nahe, den Geist als eine unkontrollierbare und vorrangig unheimliche Präsenz zu sehen, als etwas, das kommt und geht, wie es will, das eine*n verfolgt. Spuken, das ist doch so etwas wie verfolgen, oder? Haunting, das ist spuken, aber auch: heimsuchen, eine wiederkehrende Präsenz von etwas Unheimlichen, die etwas Beängstigendes an sich hat. Aber ist es angemessen, Geistern dergestalt hohe Autonomie zuzusprechen? Ist es nicht so, dass man sie anruft, heraufbeschwört, minimaliter Umstände schafft, in denen sie sich eingeladen fühlen? Die Anthropologie der Geister kennt bestimmte Techniken der Handhabung, Rituale, mit denen Geister ausgetrieben, aber auch in den Dienst gezwungen, besänftigt oder schlicht zur Gewährung von Schutz und Hilfe angerufen werden. Geister und Gottheiten, fließende Übergänge. Es gibt jedenfalls mehr als Exorzismus, und weitaus Reizvolleres.

“All stories are ghost stories, about things lost, people, memories, home, passion, youth, about things struggling to be seen, to be accepted, by the living.”

Das, ein Zitat des US-amerikanischen Schriftstellers James Sallis aus dessen letztem Roman “Sarah Jane”, lese ich – in deutscher Übersetzung – in der Vorankündigung eines Hörspiels von Wittmann & Zeitblom (mit Alice Dwyer), das auf diesem Roman beruht (lesenswert, übrigens, ein Text voller Lücken und Sentenzen). Verluste und ihre Erfahrungen sind vielfältig; aber was man genau genommen verliert, ist eine Zukunft, die nicht stattgefunden hat. Das kann eine Art Verheißung sein, derer man verlustig gegangen ist. It started out great, but it could have become so much better.

An Mark Fishers Essays zum Thema hauntology, auf den mich die Herren goncourt, mediumflow und guenterhack auf Twitter dankenswerterweise hingewiesen haben, finde ich vor allem den Gedanken interessant, dass Geister und ihr haunting für in der Vergangenheit unrealisierte Möglichkeiten stehen können, für lost futures. Bei Fisher ist das populärkulturell verbrämt und gesellschaftlich, auch politisch, gedacht; ich erlaube mir hier eine idiosynkratische Aneignung der Idee. Geister stehen für das, was geworden sein hätte können. Der Irrealis suggeriert ein Element des Bedauerns, aber man kann das auch distanzierter sehen, neutraler: Sie stehen für eine Möglichkeit, sich zu einer ungeschehenen Zukunft (die dann auch eine ungeschehene Gegenwart und Vergangenheit wird) zu verhalten. Das kann aber auch bedeuten: Man muss die Geister nicht austreiben. Es gibt artgerechtere Formen des Umgangs mit ihnen als Exorzismus. Sie bieten Gelegenheiten, sich aus gewonnener Erfahrung heraus mit Möglichkeiten zu beschäftigen, die es einmal gegeben hat, die man unter Umständen auch weiterspinnen kann, vielleicht. Man eröffnet sich einen Raum des Ungeschehenen, wenn man Geistern nachspürt. Das ist nicht uncharmant.

Ich versuche also, meine Geister zu kultivieren. Ich spreche mit ihnen, manchmal schreibe ich sogar Dialoge auf, die mitunter ein bisschen wie Being John Malkovitch geraten. Die Geister pflegen dabei gerne einen schnippischen, ironischen Tonfall, mit beigemischter Grundgüte. Benign present absences. Sie machen sich gern lustig über mich, wie auch ich mich lustig über sie mache. Man neckt einander. Sie korrigieren mich, sie bewahren mich gelegentlich vor Sentimentalität und oft vor Selbstmitleid. Man schenkt sich nichts und gibt sich viel, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht genau weiß, was sie ihrerseits von mir haben. Meist sind sie da, um mir zur Seite zu stehen, so stelle ich mir das jedenfalls vor, aber sie wissen halt auch nicht immer, wie das am besten geht, oder wann das nötig wäre, no hard feelings, auch mit Geistern gibt es Kommunikationsschwierigkeiten. Zumeist aber ist ihre Präsenz spürbar belebend.

Gut, manchmal schmeiße ich sie raus; dann wird’s zu viel. Manchmal übertreibe ich es auch, das geht ihnen wohl auf die Nerven. Jedenfalls werden sie mitunter unwirsch, verweigern sich dem Gespräch, oder verschwinden einfach plötzlich, für Wochen, um sich dann wieder zart bemerkbar zu machen, nur so als Hauch, als Sprühnebeldusche des Ominösen. Haben wohl auch anderes zu tun, man spukt gewiss multipel. Sie bleiben in einem verschwommenen Bereich ohne scharf umrissene Konturen, in dem vieles ineinander verläuft. Man kann sich an ihnen nicht festhalten; man kann sie nicht festhalten; sie lieben die Unklarheit, sind assoziativ, sprunghaft. Hätte man Geliebte aus anderen Städten, würde man sie sich in etwa so vorstellen: Sie tauchen gelegentlich auf, es kommt zu wunderbaren Momenten, und dann verschwinden sie wieder in ihr eigenes Leben, das rätselhaft und verborgen bleibt, und man selbst in das eigene, von dem sie ihrerseits bestenfalls ahnen. Der Vergleich hinkt, gewiss, denn die verlorenen Zukunftsstränge, für die die Geister stehen, schwingen in ihrer Ungeschehenheit einfach mit, ambient sound. Die Geister verschwinden mitunter, aber sie hinterlassen etwas. Ein Mitrauschen für die Gegenwart, vielleicht sogar Saiten, auf denen sie spielen kann. Und sie kann sie in weitere Möglichkeiten verwandeln, das scheint mir verlockend.

Ach ja, Christina Dongowski wies auf Twitter noch auf ein Zitat von Toni Morrison hin:

“I think of ghosts and haunting as just being alert. If you’re really alert then you see the life that exists beyond the life that is on top. It’s not spooky necessarily—might be—but it doesn’t have to be. It’s something I relish rather than run from.”

Es stammt aus einem Interview mit Morrison aus 2004 auf NPR, dem ich aber leider nichts weiter Erhellendes über Geister entnehmen kann. Frau Dongowski verdanke ich übrigens auch den Hinweis auf Avery F. Gordons Buch “Ghostly Matters – Haunting and the Sociological Imagination”, den ich hier noch festhalte.

——————————-
Nachtrag: Hilary Mantel verstarb am 22.9.2022; aus diesem Anlass postete jemand auf Twitter folgendes Zitat von ihr, das einen ähnlichen Gedanken von Geistern als unrealisierten Möglichkeiten formuliert, wenngleich wehmütiger und eindeutig negativer, als ich es im Sinn habe:

“You come to this place, mid-life. You don’t know how you got here, but suddenly you’re staring fifty in the face. When you turn and look back down the years, you glimpse the ghosts of other lives you might have led; all houses are haunted. The wraiths and phantoms creep under your carpets and between the warp and weft of fabric, they lurk in wardrobes and lie flat under drawer-liners. You think of the children you might have had but didn’t. When the midwife says, ‘It’s a boy,’ where does the girl go? When you think you’re pregnant, and you’re not, what happens to the child that has already formed in your mind? You keep it filed in a drawer of your consciousness, like a short story that never worked after the opening lines.”

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